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15. Juli 1896. Das SchMerechtigmigsivesen vom socialen Standpunkt aus. Stahl und Eisen. 543 Städten vielfach humanistische Gymnasien oder Progymnasien, in den kleineren „höhere Stadt schulen“, welche gewöhnlich bis einschliefslich Obertertia nach einem gemischten Lehrplan des humanistischen und des Realgymnasiums unter richten — etwa auch facultative Curse haben —, lediglich, um einigen Söhnen der betreffenden Stadt den Uebergang auf die Secunda eines humanistischen Gymnasiums zu ermöglichen. Dieser Wenigen wegen, die gewöhnlich die Söhne der reicheren und darum im Stadtrath entscheidenden Steuer zahler sind, wird die Errichtung lateinloser An stalten hintangehalten, und zu verdenken ist das den betreffenden Leuten gar nicht einmal. Man schaffe das Gymnasialmonopol aus der Welt, und sofort wird die Sache anders werden. Alles Zu reden des Staates, lateinlose Anstalten zu errichten, auch die anerkennenswerthe Wirksamkeit des Vereins der Freunde lateinloser Schulen, kann hier wenig helfen; die Aenderung unseres Berechtigungs wesens kann allein gründliche Hülfe schaffen. Ist es denn nun aber in socialer Hinsicht nicht aufser- ordentlich bedenklich und unrecht, dafs aufser jenen wenigen, auf das humanistische Gymnasium übergehenden Knaben, nun auch allen denjenigen, welche einige Klassen des Gymnasiums oder jene höheren Stadtschulen besuchen, und denen der Besuch lateinloser Anstalten sehr viel nützlicher wäre, die lateinlose Anstalt vorenthalten wird? Die Antwort kann wohl nicht zweifelhaft sein. Viel bedenklicher aber in socialer Hinsicht ist es, dafs das Berechtigungsmonopol viele Schüler dem Gymnasium zuführt, welche später das aka demische Proletariat vermehren helfen. Die Frage der Ueberfüllung unserer Universitäten ist eine aufserordentlich ernste. In dem ärztlichen Beruf bilden sich allmählich Zustände heraus, welche die besten Vertreter dieses Standes mit berechtigter Furcht erfüllen. Die Fälle sind heute schon nicht selten mehr, dafs junge Aerzte, lediglich um eine Praxis zu bekommen und nicht zu verhungern, mit socialdemokratischen Kassen Verträge ab- schliefsen, in denen sie geloben, auch politisch der socialdemokratischen Partei anzugehören, und sich verpflichten, einen bestimmten Procentsatz ihres ärztlichen Honorars an die Parteikasse abzuführen. Die Zahl socialdemokratischer Rechtsanwälte ist im Wachsen begriffen, und die philosophische so wohl wie die juristische Facultät stellt in jenen Existenzen, die nach dem Examen eine Beschäftigung an unseren Schulen, in der juristischen Praxis, an unseren Handelskammern u. s. w. nicht finden, ein ganzes Heer von Redacteuren und Correspon- denten für die socialdemokratische Presse. Glaubt man denn, dafs diese Leute alle aus Begeisterung zu der socialdemokratischen Fahne übergehen? Wird nicht vielmehr ein sehr grofser Theil, wenn nicht der gröfste, durch den Hunger und die Sorge um eine Existenz in die Reihen der Feinde unserer gesellschaftlichen Ordnung getrieben? Als die Umsturzvorlage im vergangenen Jahre fiel — und sie fiel in derjenigen Form, die sie hatte, nach der Ansicht des Vortragenden mit vollem Rechte —, da drängte sich dem Vortragenden die Ueberzeugung auf, dafs man der Vermehrung der geistigen Führer unserer Socialdemokratie viel wirksamer durch eine Beseitigung des Berechtigungs monopols unserer humanistischen Gymnasien ent gegenträte — als durch eine derartige Vorlage, die einen grofsen Theil des Geisteslebens unserer Nation in Fesseln zu schlagen drohte. Aber wird nicht dadurch, dafs man den Realgymnasien und Oberrealschulen erweiterte oder mit den Gymnasien gleiche Berechtigung giebt, die Zahl der Studirenden noch um ein Beträchtliches wachsen und dadurch das akademische Proletariat nicht schier ins End lose vermehrt werden? Der Vortragende glaube, diese Frage durchaus verneinen zu sollen. Der Nationalökonom Professor Dr. Conrad hat durch eine falsche Schlufsfolgerung auf diesem Gebiet eine ungeheure Verwirrung angerichtet, die sich seit dem Erscheinen seiner Schrift: „ Das Universitäts- Studium in Deutschland während der letzten fünfzig Jahre“ (Jena 1884) wie eine ewige Krankheit fortschleppt, trotzdem Conrad später in seiner Ab handlung über das Studium der Medicin in Holland zu ganz anderen Ergebnissen gekommen ist. Be kanntlich verlangte Conrad in seiner ersten Schrift, welche den Beweis von der Ueberfüllung unserer Universitäten erbrachte und die Ueberproduction an akademisch Gebildeten ziffernmäfsig nachwies, die Beseitigung der Realgymnasien, um einen Zu gangskanal zur Universität zu verstopfen. Keine Schlufsfolgerung kann falscher sein, als die Conrads, weil er übersieht, dafs das Berechtigungsmonopol der Gymnasien die Eltern anreizt, ihre Söhne dieser Anstalt anzuverlrauen, und dafs infolgedessen eine grofse Anzahl von Jünglingen eine Bildung erhält, mit der sie vielfach nichts Anderes anzufangen wissen, als auf die Universität zu gehen, weil sie zum Ergreifen eines praktischen Berufes sich zu stolz fühlen und vielfach durch die Art ihrer Bildung dazu auch gar nicht geeignet sind. Fällt das Berechtigungsmonopol und wird die Bahn frei für alle, dann wird sich nicht die Zahl der Stu direnden vermehren; sondern die Zahl der Gymnasien und damit die Zahl ihrer Abiturienten wird sich so bedeutend vermindern, dafs auf den Universitäten Platz genug für den Theil der aus Realgymnasien und Oberrealschulen auf sie übergehenden Jünglinge sein wird. Dies hat überzeugend schon 1888 Steinbart nachgewiesen und statistisch belegt. (In „Des Hm. Ministers v. Gofsler letztes Bedenken gegen die Erweiterung der Berechtigungen der Realgymnasien“.) Es ist ein grofser Irrthum Conrads, wenn er Übersicht, wo der Ausgleich liegt; ein noch gröfserer Irrthum ist es, wenn er meint, nun würden alle Realabiturienten auf die Universität übergehen. Im Gegentheil: es werden nach Beseitigung des Monopols viel mehr junge