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Juli 1881. „STAHL UND EISEN.“ Nr. 1. 5 stritten das Verdienst zu der Entwicklung eines Probirsystems für die Beurtheilung der Qualität von Eisen und Stahl, welches für gewisse Verwendungen in der Praxis von grossem Werth ist, in hervorragender Weise beigetragen zu haben. Leider sind aber speciell die deutschen Eisenbahn-Verwaltungen, lauge bevor das Wöhlersche System bis zu der für die allgemeine Einführung erforderlichen Reife ge diehen war, dazu übergegangen, die bisher bewährten Materialproben vollständig zu verlassen und dafür die neuen Wöhlerschen Zerreissproben als etwas ihrer Ansicht nach Zuverlässigeres einzuführen; hierdurch ist einestheils eine naturgemässe und in allen Theilen zuverlässige Entwicklung des Systems unmöglich geworden, anderntheils sind den Eisen- und Stahl ■ Fabricanten aus der verfrühten Einführung des Systems Schwierigkeiten bei ihrer Fabrication erwachsen, welche auch nicht annähernd im Ver- hältniss stehen zu dem qualitativen Werth des so geprüften Materials. Schon im Juni 1876 wurde von der Versammlung deutscher Eisenbahntechniker in Constanz der Beschluss gefasst, dahin zu wirken, dass auf Grundlage des Wöhlerschen Systems eine bestimmte, staatlich anerkannte Classification von Eisen und Stahl allgemein eingeführt würde. Es wurde ferner beschlossen, ein möglichst grosses Quantum von Material, herrührend von Schienen, Aclisen, Bandagen etc., welche in der Praxis beobachtet worden waren, zu Probestäben herzurichten und Herrn Professor Bauschinger in München mit der Untersuchung dieses Materials zu betrauen. Obwohl durch die Bauschingerschen Versuche, welche damals schon über 300 Zer reissproben umfassten, ein auch nur annähernd sicherer Anhalt für das Verhalten des Materials in der Praxis nicht gewonnen wurde, im Gegentheil Widersprüche in über raschender Zahl constatirt wurden, beschloss doch die Subcommission des Vereins deutscher Eisenbahn-Verwaltungen in ihrer Sitzung zu Stuttgart am 18. Juni 1878, den Eisenbahn-Verwaltungen die Einführung der Zerreissproben als ausschliesslich massgebend für die Beurtheilung der Qualität des Materials zu empfehlen. Die Berathungen der Herren Eisenbahntechniker über die vorzuschreibenden Materialproben hatten ohne Zuziehung von Technikern aus den Kreisen der Eisen- und Stahl-Industriellen stattgefunden; dieselben wurden indessen selbstverständlich von den letzteren in hervorragender Weise beachtet, und brachte eine Commission von Eisen- und Stahl-Fabricanten schon im December 1877 ihre abweichende Ansicht durch eine Eingabe, Vorschläge zur Aufstellung normaler Lieferungsbedingungen für Eisenbahn- materialien enthaltend, zur Kenntniss Sr. Excellenz des Herrn Handelsministers Maybach. In diesen Vorschlägen fänden sowohl die älteren Schlag-, Biege- und Belastungs proben, wie die neuen Zerreissproben gebührende Berücksichtigung, und wurden dieselben seitens des Ministeriums den Verwaltungen der deutschen Staatseisenbahnen zur Begut achtung überwiesen. Mit Schreiben vom 29. September 1878 wurden den Vertretern der Eisen- und Stahl-Industriellen sodann durch das Handels-Ministerium die Gegenentwürfe der Eisen bahn-Verwaltungen zugestellt mit der Aufforderung, sich über diesen Entwurf zu äussern, und mit dem Bemerken, dass ein Entwurf zu allgemeinen Bestimmungen, betreffend die Vergebung von Leistungen und Lieferungen im Bereiche des Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, welcher den Vorschlägen der Commission der Eisen- und Stahl-Industriellen in allen wesentlichen Punkten Rechnung trüge, bereits im Mini sterium berathen sei und voraussichtlich in nächster Zeit zur Einführung gelangen würde. Die Commission der Eisen - und Stahl - Industriellen konnte daher in einer Sitzung am 8. October 1878 die ihr vom Ministerium zugegangenen Vorschläge in allen wesentlichen Punkten acceptiren und schickte das Protokoll ihrer Sitzung am 9. October mit dem schuldigen Dank für das wohlwollende Entgegenkommen an das Ministerium ein. Leider hat aber die in Aussicht gestellte definitive Aufnahme des Entwurfs in die Lieferungsbedingungen der Königlich Preussischen Staatsbahnen bis heute nicht stattge funden; im Gegentheil finden wir auch in den Bedingungen der Staatsbahnen seit dieser Zeit ein immer mehr um sich greifendes Verlassen der älteren bewährten Schlag-, Biege- und Belastungsproben zu Gunsten der ausschliesslichen Einführung von Zerreissproben. Es konnte nicht ausbleiben, dass die für die wirthschaftlichen Interessen der deutschen Eisen- und Stahlwerke so wichtige Frage in engeren und weiteren Kreisen lebhaft discutirt wurde und dass in öffentlichen Blättern mehrfach auf die Gefahr auf merksam gemacht wurde, welche dadurch entstand, dass die Consumenten einseitig, ohne jede Mitwirkung der Producenten, den wichtigsten Theil ihrer Lieferungsbedingungen festsetzten; andererseits glaubten die Eisen- und Stahl-Industriellen, theilweise geleitet