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DtiilM M Wkißrrih-Mlllß. Nr. 175 Freitag de« 31. Juli 1914 80. Jahrgang Deutschlands Vündnispflichken. Wenn Oesterreich. Ungarn heute in der Lage ist, mit Nachdruck auf der Erfüllung seiner Forderungen gegen- über Serbien zu bestehen, so verdankt es dies einzig und allein dem Umstande, daß ihm das Deutsche Reich kraft Kiner Bündnisverpflichtungen mit unbedingter Treue zur Seite steht. Der „brillante Sekundant", als den Kaiser Wilhelm einst nach der Algeciras-Konferenz in einem Tele gramme an den damaligen österreichisch-ungarischen Mi nister des Auswärtigen Grafen Goluchowski die verbündete Donaumonarchie bezeichnet hat, sieht jetzt den deutschen Freund in schimmernder Wehr sich zur Seite, bereit, ihm gegen eine Welt von Feinden Gefolgschaft zu leisten. L Vielleicht ist jetzt der Augenblick ganz nahe, wo das deutsch-österreichische Bündnis vom 7. Oktober 1879, das späterhin durch den Beitritt Italiens zum Dreibund- Vertrag erweitert wurde, zum ersten Male seine Feuer probe zu besteben haben wird. Bekanntlich setzt sich der Dreibund-Vertrag aus drei Verträgen zusammen, von denen der erste das Bündnis verhältnis zwischen Deutschland und der Donaumonarchie festlegt und im ersten Artikel lautet: Sollte wider Berhoffen und gegen den aufrichtigen Wunsch der beiden hohen Kontrahenten eines der beiden Reiche von feiten Ruhlands angegriffen werden, so sind die hohen Kontrahenten ver pflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche bei zustehen und demgemäß den Frieden nur gemeinsam und überein stimmend zu schließen. Aus diesem Vertrage geht hervor, daß im Falle eines Angriffes Rußlands auf Oesterreich — und nur in dieser Form könnte sich eine Intervention Rußlands zugunsten Serbiens abspielen — Deutschland verpflichtet wäre, „mit seiner gesamten Kriegsmacht an die Seile des österreichi schen Bundesgenossen zu treten. Der Abschluß des Bündnisvertrages zwischen dem Deutschen Reiche und Oesterreich-Ungarn zählt ohne Zweifel 1 zu den bedeutendsten politischen Taten unseres großen Kanzlers. Mit seinem in die Zukunft oordringenden Blick hat Fürst Bismarck schon mehr als ein Jahrzehnt vor der Unterzeichnung den Grund gelegt für die enge Völkerrecht- ! liche Verknüpfung der beiden mitteleuropäischen Reiche. Auch von seinen verdienstvollen Mitarbeitern, Graf An- drassy, von Radowitz, weilt keiner mehr unter uns, aber das große Werk lebt fort und ist vom Tage seiner Vollen- j düng an das Fundament der europäischen Politik ge blieben. * -p * Noch immer keine Entspannung der politischen Lage! Im Gegenteil! Ueber London kommt eine bedeu tungsvolle Nachricht von russischen Kriegsvorkehrungen, die, wenn sie wirklich den Tatsachen entspricht, naturgemäß eine weitere Verdüsterung'des politischen Horizontes be ideutet: Im Süden und Südwesten Rußlands wurde be- !reits am Dienstag eine teilweise Mobilmachung ange ordnet. Diese russische Teilmobilisierung erstreckt sich, so wird gemeldet, aus die militärischen Be zirke von Kiew, Odessa, Moskau und Kasan. In jedem Bezirk ständen, so wird gemeldet, vier Armeekorps in Friedensstärke. Durch die Mobilisation würden die 16 Arineekorps auf die Stärke von 32 Armeekorps gebracht. Kasan sei der Zcntralbezirk, von dem aus die Rejerven für die Westgrenze zusammengezogen werden. Kaiser Franz Joseph in Wien. Zum zweiten Male hat in diesem Jahre der Kaiser seinen Aufenthalt in Ischl unterbrochen, um in die Re sidenz zurückzukehren. Die Nachricht von der Ankunft des Monarchen hatte in der Stadt unbeschreiblichen Jubel heroorgerufen. Allenthalben wurden Vorbereitungen ge- troffen, die dem Herrscher Zeugnis ablegen sollten von der glühenden Liebe, dem hohen Patriotismus und der hinreißenden Begeisterung der Wiener Bevölkerung. Die Ankunft des Monarchen erfolgte am Donnerstagmittag. Schon um 8 Uhr morgens hatte eine wahre Völker wanderung nach Penzing begonnen. In musterhafter Ordnung und Ruhe hatten die Massen der Ankunft des Monarchen geharrt, dem ein über alle Maßen begeisterter Empfang zuteil wurde. Italiens Stellung. Die halbamtliche römische „Tribuna" nimmt in einem Leitartikel am Donnerstag offen Partei für die Dreibund politik. Das Interesse Italiens liege heute darin, daß es loyal und voll zum Dreibund halte und soviel wie möglich die benachbarten Verbündeten gegen Angriffe und In trigen unterstütze und verteidige. Denn die Stärke und das Ansehen der Verbündeten sei ein Teil der eigenen Stärke und des Ansehens Italiens in Europa, zumal seit langen Jahren der Dreibund bis heute den Frieden er halten habe. Italien müsse eine ehrliche, klare und ent schiedene Politik treiben. England rüste» nicht. In London wird am Donnerstag amtlich gemeldet, daß die militärischen Behörden keine Maßregeln getroffen haben, die den Charakter einer Mobilisierung tragen. Die Befehle, die gegeben wurden, seien lediglich Vorsichtsmaß- .regeln defensiven Charakters. Die Maßregeln in der Marine seien ebenfalls Vorsichtsmaßregeln, es sei keine Mobilisierung angeordnei orden. Die politische Luvor dem Parlament. Auf eine Anfrage erklärte der englische Premier- Minister Asquith im Unterhause: Wie dem Hause bekannt ist, erfolgte die förmliche Kriegserklärung durch Oesterreich gegen Serbien. Die Lage tft in diesem Augenblicke von größtem Ernst, und ch kann zweckmäßigerwekse nur sagen, daß die Regierung n ihren Bemühungen nicht nachläßt, alles was in ihrer Rächt steht, zu tun, um das Areal eines möglichen Kon- likt» zu umschreiben. 3m Oberbause saat<- der Gehelmsieaelbewahrer Lord Morley in Beantwortung einer Anfrage Loro Lansdownes, er habe sehr wenig über die Lage mitzu teilen. Ganz Europa sei wie aus einem Traum erwacht. Er sei sich der weitreichenden Möglichkeiten, die sich an gesichts der Kriegserklärung eröffneten, lebhaft bewußt. Was den besten Weg betreffe, den Krieg von den zunächst nicht unmittelbar betroffenen Gebieten abzuwenden, so seien alle anderen Länder hierüber in Unterhandlung be griffen. Die britische Regierung werde ihre ernstlichen Be mühungen unablässig fortsetzen, da sie mit allen Kompli kationen und Schwierigkeiten der europäischen Situation wohl vertraut sei. Sie werde nicht von den An strengungen ablassen, der Sache des internationalen Friedens zu dienen, um so eine ungeheure Katastrophe zu vermeiden. SolidarllS» -er französischen Radikalen ml» der Regierung. Die Gruppe der Radikalen und der Sozialistisch-Ra dikalen ließ durch eine Abordnung dem Ministerpräsidenten Viviani eine Erklärung überreichen,- in der ausgedrückt wird, daß die Gruppe die Festigkeit und Weisheit der republikanischen Regierung in der gegenwärtigen Lage an erkenne und sich in patriotischem Gefühl und Vertrauen aufs engste mit ihr solidarisch erkläre. Eine Ansprache des Zaren. Die Aspiranten der Marineschule wurden in Gegen wart des Zaren zu Offizieren ernannt. Bei dieser Ge legenheit richtete dieser eine Ansprache an sie, in der er u. a. sagte: „Ich habe befohlen, Sie angesichts der ernsten Ereignisse, welche Rußland jetzt durchzumachen hat, zu sammenzuberufen. Während des Dienstes als Offizier, der Sie erwartet, vergessen Sie nicht, was ich Ihnen sage: Glauben Sie an Gott und haben Sie den Glauben an den Ruhm und an die Größe unseres mächtigen Vater landes." Die Erregung in Rußland nimmt infolge der vorzüglich organisierten Tätigkeit der nationalistischen Hetzapostel immer größere Dimensionen an; aus allen größeren Städten des Reiches werden fort gesetzt Kundgebungen für Serbien, Montenegro, Frank reich und England gemeldet. — Die deutsche und die österreichisch-ungarische Botschaft in Petersburg werden von allen Seiten durch verstärkte Polizeitruppen zu Pferde und zu Fuß bewacht. Es ist auch verboten, sich auf den gegenüberliegenden Bürgersteigen aufzuhalten. Das neutrale Hollaud. Das Amsterdamer Amtsblatt veröffentlicht unterm 30. Juli eine Erklärung, daß die Niederlande während des österreichisch-serbischen Krieges streng neutral bleiben. Vom Kriegsschauplatz. Die österreichisch-ungarischen Militär- und Zivilbe hörden ließen, wie eine erst am Donnerstag in Berlin eingetroffene Meldung des Serbischen Preßbureaus be sagt, am 26. Juli auf serbische Schiffe auf der Donau ein Feuer eröffnen und nahmen sie darauf in Besitz. Bier Schiffe fielen so den Oesterreichern in die Hände. Ein fünftes serbisches Schiff wurde bei Orchava von einem österreichischen Flußkanonenboot angehalten. Das Kanonen boot holte die serbische Flagge nieder und ersetzte sie durch die ungarische. Am folgenden Morgen feuerten Zollboote auf zwei andere serbische Schiffe, die sich sogleich ohne Be deckung serbischer Truppen auf der serbischen Seite auf- stellien. Der Schaden ist erheblich, dagegen sind keine Verluste an Menschenleben zu beklagen. Bei Kicznicy und Smedereoo hat ein Artilleriekampf begonnen. * * * Berlin, 30. Juli, 6.10 Uhr abds. Wolffs Telegraphen bureau bringt folgende Meldung über eine" weitere, um fassende russische Teilmobilisierung: Petersburg, 30. Juli. Ein kaiserlicher Ukas ruft unter die Fahnen, erstens die Reservisten in 23 ganzen Gouvernements und 71 Distrikten von 14 anderen Gouvernements; zweitens einen Teil der Reservisten von 8 Distrikten in 4 Gouvernements; drittens die Reservisten der Flotte in 84 Distrikten von 12 russischen Gouvernements und einem finnlündischen Gouverne ment; viertens die beurlaubten Kosaken im Donge biet, in Kuban, Terrek, Astrachan, Orenburg und Aral; fünften» die entsprechende Anzahl von Reserve offizieren, Aerzten, Pferden und Wagen. (Zu der Mobilmachungsorder ist zu bemerken, daß das europäische Rußland 58 Gouvernements hat. D. R.) Zur diplomatischen Lage bringt die Abendausgabe des „Berliner Lokalanzeigers" vom Donnerstag folgende Ausführungen: Die allgemeine Lage ist heute entschieden ernster ge worden, seitdem die auffallenden militärischen Rüstungen an der Südwestgrenze Rußlands die Arbeit der europäischen Diplomatie aufs höchste erschweren, wenn nicht gar illusorisch machen. Wenn auch von einer vollkommenen russischen Mobilisation im technischenSinne zurzeitnochnichtgesprochen werden kann und die englische Meldung von der Ver wandlung von 16 Armeekorps in 32 mit größter Vorsicht aufzunehmen ist, so bedeuten die Vorkehrungen der russi schen Armeeleitung doch immerhin schon die Vorbereitung für eine später durchzuführende Mobilmachung. Es liegt nahe, daß die von dieser bedrohlichen Hnliung des Zaren reiches am meisten betroffenen Staaten den Zeitpunkt für gekommen erachten, sich mit einer Anfrage nach Petersburg über den Zweck dieser militärischen Maßnahme zu wenden. Ja, es wurde bereits behauptet, ei» solcher Schritt sei inzwischen beim Petersburger Kabinett erfolgt, was uns an hiesigen Stellen, die darüber unterrichtet sein mühten, allerdings als nicht zutreffend bezeichnet wird. Aber man geht wohl nicht seht m der Annahme, daß eine solche Demarche bei der russischen Regierung nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Sie erscheint aber auch selbst verständlich, da die Frage, gegen wen die auffallenden Rüstungen Rußlands, das weder von Oesterreich-Ungarn noch von Deutschland bedroht wird, gerichtet sind, gestellt werden muß. Für ebenso selbstverständlich halten wir er aber auch, daß Veulschlanv seine Gegenmahregeln augenblicklich triff», um in Petersburg endlich verstehen zu geben, daß man hier nicht geneigt ist, dieses fortgesetzte Raffeln mit dem Säbel gleichgültig Hinzunehmen. Die drohende Geste, die Rußland seit einigen Tagen zur Schau trägt, steht zu der von der russischen Diplomatie abgegebenen Erklärung, sie sei zu weiteren Verhandlungen bereit, in krassem Gegen satz. Nur eine klare Sprache Deutschlands vermag hier vielleicht noch in letzter Stunde das drohende Unheil von Europa abzulenken, und darum glauben wir, daß die nächsten 24 Stunden Entscheidungen von unge heurer Bedeutung bringen werden * * Wie in Berliner politischen Kreisen verlautet; soll eine sowohl am Berliner wie am russischen ^ofe gern gesehene hochgestellte Persönlichkeit nach Pet--- rg abgereist sein, um einen letzten Versuch zu machen, eine Entspannung der Lage herbeizuführen. Deutsches Reich. Eine Novelle zum preußischen Slempelsteuer-Ge- seh wird vom Abgeordnetenhause gefordert. Der Anlaß hierzu ist nach der „Tgl. Rdsch." folgender: Im Gegensatz zu einer früher geübten Praxis werden neuerdings auf Anordnung des Finanzministers die Verträge wegen Ueber- lassung fertig oder zum Teil eingerichteter Gast- und Schankwirtschaften für die Stempelsteuer als „Pachtver träge" angesehen und genießen sonach nicht die in Tarip- stelle 48 Ziffer 1, Absatz 2 des preußischen Stempelsteuer» Gesetzes vorgesehene Vergünstigung, daß 50 v. H. der für Pacht- und Mietsverträge zu berechnenden Stempelabgabe unerhoben bleiben sollen, wenn das „Mietsverhältnis" Räume betrifft, die für gewerbliche oder berufliche Zwecke bestimmt sind. Die im Prozeßwege ergangene Erkenntnis des Reichsgerichts ist der neueren Auf. fassung des Finanzministers beigetreten. Aus der Geschichte des Stempelsteuergesetzes ergibt sich, daß hinsichtlich der genannten von Brauereien unterhaltenen großen Lokale ein Unterschied zwischen Pacht und Miete nicht gemacht wurde. Das Abgeordnetenhaus vertritt deshalb die Auffassung, daß die entstandene Unklarheit über die Gesetzesvorschriften durch eine Novelle zum Stempelsteuergesetz beseitigt werden muß. Die Staats regierung will, wie wir hören, dieser Forderung nicht entsprechen, weil sie der Meinung ist, daß bei der frag lichen Tarifvorsrbrift in genauer Weise zwischen de« juristischen Begriffen „Miete" und „Pacht" entschiede» worden ist. Wahlprokest. Von konservativer Seite aus wird gegen die Wahl des fortschrittlichen Reichstagsabgeordnete« Wagner in Labiau - Wehlau ein Wahlprotest eingelegt werden. Eine stürmische Sitzung fand dieser Tage in der Zweiten bayrischen Kammer statt anläßlich der Beratung des Eisenbahnetats, als der Verkehrsminister von Seidlein auf die destruktiven Tendenzen des süddeutschen Eisenbahne»» verbandes hinwies und dabei an die Mehrheit des Hauses die Frage richtete, ob sie die Herrschaft über das »Per» sonal, und damit über den Betrieb und da» Wohl und Wehe des Vaterlandes den sozialdemokra tischen Führern dieses Verbandes überlassen wolle. Unter lebhaftester Bewegung des Hauses erklärte der Minister, daß die Antwort auf diese Frage seitens aller deutschen Eisenbahnoerwaltungen „Niemals!" lauten müsse. Der Präsident war dem Tumult gegenüber machtlos. Der Minister betonte, daß die rechtliche Frage, ob dem Eisen- bahnpersonal das Streikrecht gewährt werden könnte, ganz klar liege. Nach der Rechtslage finde diese Bestimmung auch auf das Siraßenbahnpersonal Anwendung. So wichtige Betriebe, wie die Armee und die Verkehrsanstalten, dürften durch eine Massenarbeitseiiistellung nicht lahm gelegt werden. In dem Kampf gegen den Tabakkrus» haben die beteiligten Kreise einen weiteren wichtigen Schritt vor wärts getan. Auf einer Versammlung, an der fast alle maßgebenden, dem Trust nicht angehörigen Fabrikanten teilnahmen, wurde nämlich beschlossen, mit Wirkung vom 1. August d. Js. mit allen zu Gebote stehenden Mitteln gemeinsam gegen die Zigarettenschleuderer vorzugehen, gegen ein Unwesen, dessen Ausdehnung direkt auf n Trust zurückzuführen ist, und dessen Folgeerscheinungen geeignet sind, die gesamte Zigaretteuinöustue auf das empfindlichste zu schädigen. Ausland. Italien. Erfolge in Tripolis. Zwei unter dem Befehl des Generals Mambretti und des Obersten Martinelli stehende italienische Kolonnen schlugen durch gemeinsames Vorgehen ani 27. d. Mts. etwa tausend Rebellen, die in ausgezeichneter Stellung in der Zone von Kaulan sich verschanzt hatten, in die Flucht. Die Rebellen verloren 145 Tote und ließen außerdem eine große Menge Waffen und Munition im Stich. Auf feiten der Italiener wurden ein Meißer und sieben Askaris getötet, ein Offizier und 27 Soldaten ver wundet.