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Die „Sinfonie des Zweifels“ nannte Karl Laux einmal die zwischen dem n. Oktober 1871 und dem n. September 1872 entstandene 2. Sinfonie in der tragischen Tonart c-Moll. — Bruckner hat zwar mit seiner ersten, „kecken“ Sinfonie nur wenig Erfolg gehabt, aber der als Nachfolger seines inzwischen verstorbenen Lehrers Simon Sechter als Professor für Generalbaß, Kontrapunkt und Orgel an das Wiener Kon servatorium berufene Künstler, kann von der Sinfonie nicht mehr lassen. — Er bemüht sich um Einfachheit, er will die Form seiner Sätze übersichtlicher machen und grenzt deshalb ihre einzelnen Abschnitte durch Generalpausen voneinander ab. Dies wird von manchen Kritikern nicht verstanden, die böswillige Abstempelung des Werkes als „Pausensinfonie“ ist die Folge. Wie Bruckner diese Pausen aufgefaßt wissen wollte, hat er selbst gesagt: „Wenn ich etwas Wichtiges zu sagen habe, muß ich vorher Atem holen.“ — Im neuerschienenen „Konzertbuch“ (Henschel Verlag), das jedem Musikfreund empfohlen sei, lesen wir über den Kampf um die Uraufführung: Bruckner war achtundvierzig Jahre alt, als er seine neue Sinfonie den Wiener Phil harmonikern einreichte. Sie erklärten das Werk für unspielbar. Daraufhin bezahlte er mit 405 Gulden die Aufführung, und so erklang die Sinfonie zum ersten Male am 26. Oktober 1873 im großen Musik verein anläßlich des offiziellen Schlusses der Wiener Weltausstellung. Der hervorragenden Wiedergabe unter seiner Leitung (im Orchester saß damals noch Arthur Nikisch als Geiger) war ein großer Erfolg be- schieden. Das Urteil Ludwig Speidels im „Fremdenblatt“ zeugt davon: „Aus dieser Sinfonie tritt uns eine musikalische Persönlichkeit entgegen, welcher die zahlreichen Gegner, die sie gefunden, nicht würdig sind, die Schuhriemen aufzulösen. Er kann lächeln über seine Widersacher, denn an Wissen und Können stehen sie unendlich weit unter ihm.“ „Ziemlich schnell“ heißt in der Urfassung die Tempobezeichnung des 1. Satzes, gegenüber dem „Moderato“ (mäßig bewegt) der Wiener Aufführung. Durch das raschere Zeitmaß erhält das in dem Cellis 24 Takte lang erklingende Hauptthema erst den richtigen Ausdruck, aus dem Wehmut und fragendes Suchen zu uns sprechen. Im zweiten, gesangvollen Thema scheint Bruckner seine Heimat in Dorf und Wald zu beschwören, während das dritte Thema mit seinem Anklang an die g-Moll-Fuge von Joh. Sebastian Bach den großen Thomaskantor zur Hilfe ruft. — Trotz aller bangen Zweifel bringt Bruckner die Kraft auf, den Satz in strahlendem C-Dur zu beschließen. Das Adagio ist ein dreistrophiges Lied, das in Variationen (Abwandlungen) zwei Themen einander gegenüberstellt, von denen das zweite wiederum die bohrenden Zweifelsfragen aufgreift. Das Scherzo ist unter dem Einfluß der Wiener Atmosphäre von fast „weltlicher Ele ganz“ (nach Laux). Dem Hauptsatz tritt ein in zarten Farben (Holzbläser, Hörner und Streicher) gehaltenes Trio gegenüber. (Mit Trio bezeichnete man ursprünglich einen Nebensatz, der von nur 3 Instrumenten gespielt wurde, im Gegensatz zum Tutti des Hauptsatzes, in dem alle Instrumente des Orchesters zum Einsatz gelangen.) Das Finale bringt drei Themen zur Entfaltung, von denen das zweite Thema monu mentalen Charakter hat. Bruckner verzichtet dieses Mal um der leichteren Verständ lichkeit willen weitgehend auf kontrapunktische Künste und bekräftigt mit dem jubelnden Ausklang des Satzes seine schwer errungene Bejahung des Lebens, trotz aller Neider und Feinde, die ihm so viele Stunden vergällten. Fritz Spies 6315 Ra III-9-5 115S 1.5 It-G 009/58