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Geld aufzutreiben, daß er aber zu Salbern fahren wallte, der vielleicht einspringen könnte. „Ich möchte mitfahren," sagte Lutka. „Nein, Kind, das wünsche ich nicht. In Celd- qeschichten müssen Männer allein miteinander ver- handeln." Er fuhr, kam aber so schnell zurück, daß Lutka schlimmes ahnte. Kurz und hastig sagte Werner: „Er kann nicht für mich eintreten." Schwer atmend fügte er hinzu: „wind Postsachen angekommen?" „Sie liegen auf deinem Schreibtisch, Vater. Vor ungefähr zehn Minuten ist auch ein Eilbrief an- getommen." „So, das ist gut. Ich erwartete eine geschäftliche Nachricht." Werner eilte in sein Zimmer. Eine Viertelstunde später ging Lutka zu ihm, um ihn zum Abendbrot zu rufen. „Bring' mir ein Glas Tee," sagte er, „und ein Schnittchen, aber laß mich durch niemand stören. Ich habe bis i» die Nacht zu tun und möchte völlige Ruhe haben." Es war nicht zum erstenmal, daß Werner den ganzen Abend über in seinem Zimmer blieb, um ge schäftliche Sachen zu erledigen, und noch nie hatte Lutka sich darüber beunruhigt. Heute wurde sie von unheimlicher Angst ergriffen, sah der Vater doch totenblaß aus, aber dennoch ver suchte sie nicht, ihn umzustimmen. Sie wußte, daß er eine solche Beeinflussung nicht liebte. Sie brachte ihm das gewünschte Glas Tee und das Butterschnittchen, strich ihm liebkosend mit der Hand über das Haar und sagte: „Schreib' nicht zu viel, Vater." „Nein, nein," entgegnete Werner, aber er blickte nicht auf, fügte nur noch hinzu: „Gute Nacht, Kind. Morgen ist ja alles vorüber." Lutka warf sich in dieser Nacht auf ihrem Lager- Hin und her. Sie wollte immer wieder aufstehen und nach dem Vater sehen, fürchtete aber, ihn ungeduldig zu machen. Gegen zwei Uhr stand sie doch auf, ging bis zur Tür vom Zimmer des Vaters, hörte ihn auf und ab gehen. Wenn der Morgen da war, mußte er ihr sagen, was ihn quälte, mußte ihr sagen, ob die Kündigung der Hypothek und das Unvermögen, das Geld herbeizuschaffen, ihrem Leben eine andere Richtung geben mußte. Sie wollte ganz klar sehen. Irgend etwas vollzog sich, das dem Vater die Ruhe nahm. Früher als gewöhnlich stand sie auf, klopfte wieder holt an die Tür vom Schlafzimmer des Vaters, aber niemand antwortete. Er schlief doch sonst um diese Zeit nicht mehr. Ganz behutsam drückte sie auf die Klinke, um ihn nicht zu stören, falls er wirklich noch schlief. Sie betrat das Zimmer. Auf dem Schreibtisch stand die brennende Lampe. Der Vater lag im Bett, still, wie reglos. „Vater!" rief sie leise. Keine Antwort erfolgte, und als sie seine Hände anfühlte, waren sie eiskalt. Da war es, als ob das Entsetzen sie lähmte, und doch hatte sie so viel Willenskraft, um schnell den Diener zu rufen, damit sofort der Arzt geholt werde. Sie glaubte an eine Ohnmacht: aber kälter, immer kälter wurden die Hände, die Stirn. Sie saß neben dem Lager des Vaters, wartete, wartete, bis der Arzt kam, der selbst tieferschrocken war. Nach kurzer Untersuchung erklärte er: „Herzschlag, wahrscheinlich durch irgendwelche große Aufregung hervorgerufen." Er hatte recht, aber niemand ahnte und niemand erfuhr, daß durch das offenstehende Fenster ein Fläschchen hinausgeworfen war, das Morphium ent halten hatte. Lutka schickte einen Boten zu Saldern, telegraphierte an die Gräfin Lonska, die bereits in Paris war. Mechanisch tat sie das alles. Als Saldern kam und heftig erschreckt mit ihr am Totenbett des Vaters stand, fragte er nur: „Was ist geschehen?" „Was ist geschehen?" wiederholte sie und fuhr mit der Hand über die Stirn. „Ich weiß nicht, aber doch ... Er fuhr zu dir in Sorge: ja, in großer, augenblicklicher Sorge, und du wolltest oder konntest ihm nicht helfen. Vielleicht hat die Aufregung ihm ge schadet." Sie sprach so ruhig, wie jemand, den alles, was geschah, nicht direkt anging. Saldern wehrte ab, mit stummer Gebärde und fragte nur: „Erlaubst du, daß ich an Vaters Schreib tisch gehe?" Sie "nickte und folgte ihm. Da lag der Eilbrief, der die Mitteilung enthielt, daß die Spekulation Werners, für die er sich mit einer kolossalen Summe schon vor längerer Zeit engagiert hatte, mißglückt war. Als Saldern dann die Wirt schaftsbücher aufschlug, übersah er sofort, daß das Debet das Habet völlig überstieg, daß der Ruin da war, schon längst gedroht hatte, nur immer wieder durch künstliche Machinationen niedergehalten worden mar. Die Kündigung der Hypothek, die verunglückte Spe kulation waren der Todesstoß für alle Berechnungen gewesen. Wie Eiseskälte legte es sich über Salderns Züge, aber er nahm sich zusammen, erklärte Lutka die Lage und fragte nur: „Wußtest du das?" „Nichts habe ich gewußt, nichts. Von der ge kündigten Hypothek erfuhr ich erst, als Vater gestern zu dir fuhr." Werners Tod und die zutage tretenden Ver hältnisse verursachten großes Aussehen. Viele be klagten ihn, die meisten verurteilten ihn, weil er einen Aufwand getrieben hatte, der über seine Verhältnisse hinausging. Die Aufregung hat ihn getötet," sagte jeder, und niemand, am wenigsten Lutka, kam auf den Gedanken, daß er selbst vorschnell seinem Leben ein Ende gemacht hatte. „Was wird werden?" fragten die älteren Herren in der Umgegend, „Saldern hat geglaubt, eine reiche Heirat zu machen, da er selbst nur ein geringes Be triebskapital zur Verfügung hat, und nun?" . . . Lutka hatte an den Landrat von Bredow eine Anzeige vom Tode des Vaters gesandt, und Bredow erschien zum Begräbnis. Voll herzlichster Teilnahme trat er ihr entgegen, und nach dem Begräbnis bat er sie, doch für einige Zeit zu ihnen zu kommen, um all' der traurigen Un ruhe, die sich hier entfalten mußte, zu entgehen. Da trat jedoch die Gräfin Lonska, dis von Paris herbeigeeilt war, dazwischen und erklärte: „Ich nehme meine Nichte mit nach Paris. Sie muß jetzt weit fort von hier." Bredow verstand das. Er war ja sofort über die Sachlage orientiert worden, hatte gehört, daß Prochnow unter den Hammer kommen mußte, daß für Lutka nur das kleine Erbteil ihrer Mutter blieb, das nach ihrer Geburt, als unantastbar, festgelegt worden war. Saldern verhielt sich in jeder Weise gesellschaftlich korrekt während der nächsten schweren Tage, aber kein Wort des Bedauerns kam über seine Lippen darüber, daß zwischen ihn und seine Braut jetzt eine weite Ent fernung gelegt wurde. „Es ist gut für dich, daß du gehst und allem ent fliehst, sagte er nur. „Ja, es ist gut," erwiderte Lutka, und in ihrem Wesen lag plötzlich etwas ganz Fremdes. Den Vater hatte sie verloren, und sie vermochte sich vorläufig ein Leben ohne ihn noch nicht auszu denken, hatte doch ein selten inniges Band ihn mit ihr verbunden, und sie meinte, kein Mensch könne ihr er setzen, was sie verloren hatte, und das Gefühl über schlich sie, daß Saldern ihr das nicht werden konnte, was sie geglaubt und gehofft hatte. Gerade in diesen schweren Tagen hätte er ihr doch ganz besonders nahe treten müssen. Und sie empfand, als ob er sich von ihr entfernte, als ob da etwas zwischen sie beide sich gelegt hatte, und sie wußte doch nicht recht, was es eigentlich war. Die Gräfin Lonska drängte zu schleuniger Abreise, und Lutka sprach nicht dagegen, mußte doch in den nächsten Tagen der zur Verwaltung bestimmte Sequestor eintreffen, und der Gedanke, einen Fremden hier schalten und walten zu sehen, in den Mienen aller eine Verurteilung ihres geliebten Vaters zu erkennen, war so furchtbar für sie, daß sie zusammenschauerte, wenn sie das nur ausdachte. Die Gräfin Lonska, deren Mann vor zwei Jahren gestorben war, hatte für ihre schöne Nichte stets eine große Vorliebe gehabt, und trotz der Abneigung, die sie gegen den bürgerlichen Schwager gehabt hatte, und trotz des Grolls, den sie jetzt gegen ihn empfand wegen seines unverantwortlichen Handelns, kam kein Wort über ihre Lippen, das Lutka gegenüber auch nur im leisesten den Vater verunglimpft hätte. Sie ging mit Lutka fürs erste nach Paris, sagte ihr dort von ihrem Plan, den Winter in Italien zu zubringen, um sie in der ersten Trauerzeit vor dem Zwang zu hüten, den gesellschaftlicher Verkehr auf erlegte, den sie aber in Paris nicht hätte vermeiden können. „Im Frühjahr kommen wir zurück," sagte fie. „Dann ist die Umgebung von Paris wunderschön, aber die Geselligkeit ist vorüber. Später gehen wir nach Oberschlesien auf unser Gut, hat mein Mann doch ge wünscht, daß ich es nur unter sehr günstigen Ver hältnissen verkaufe. Es wird durch einen Administrator vorzüglich bewM,chaftet." „Im Januar sollte meine Hochzeit sein," entgegnete Lutka. „Du erlaubst, daß ich erst an meinen Bräutigam schreibe und ihn frage, ob ihm ein Aufschub der Hochzeit recht ist." „Schreibe nur," sagte die Gräfin. „Ich habe scharfe Augen. Ich glaube nicht, daß er irgend etwas dagegen einwenden wird." Ein angstvoll fragender Blick aus Lutkas Augen traf sie, aber sie schien ihn nicht zu bemerken. Lutka schrieb an Saldern, sprach von den Plänen ihrer Tante, fragte ihn, ob er damit einverstanden wäre. Saldern schrieb zurück, daß er den Plan der Gräfin Lonska für sehr vernünftig halte. Er schrieb das ohne das geringste Bedauern in bezug auf den Aufschub der Hochzeit. Und dann kam ein Satz in dem Brief, den Lutka wieder und wieder las, weil sie nicht glauben wollte, daß er wirklich von ihrem Bräutigam ge schrieben war. „Wie war es nur möglich?" hieß es in dem Brief, „daß dein Vater alle Welt derartig täuschen konnte? Jedermann hielt ihn für den reichsten Besitzer der ganzen Gegend, mußte ihn auch, angesichts des Auf wandes, den er trieb, dafür halten. Und doch stand er wohl schon vor dem Bankerott, als ich zum ersten mal euer Haus betrat. Du bist in einer Umgebung groß geworden, die fürstlich zu nennen war. Es wird dir sehr schwer werden, dich in einfachere Verhältnisse zu fügen. Es liegt völlig außer meiner Macht, dir als meiner Frau das Leben so zu gestalten, wie dein Vater es seiner Tochter gestaltete." Als Lutka diesen Brief wieder und wieder gelesen hatte, lachte sie hart und scharf auf, lachte, wie sie noch nie in ihrem Leben gelacht hatte. Und in diesen Minuten vollzog sich ein Umschwung ihres ganzen Seins. Fröhlich vertrauend war sie durch die Welt gegangen, überall von Liebe umgeben und getragen. Nun sah sie sich plötzlich getäuscht, gestand sich ohne weiteres ein, daß Saldern sich mit ihr aus Berechnung verlobt habe, den reichen Schwiegervater im Auge habend, daß seine Liebe schwand in der Stunde, da ihm klar wurde, daß er sich an die Tochter eines bankerotten Mannes gebunden hatte. Wie ein Schauer durchrieselte cs sie. Und in ihr erstarb in dieser Stunde der Glaube an die Menschen, an ihr Wesen, ihre Worte. Im Herzen schrie etwa» auf gegen diese Wandlung, aber sie gebot diesem Etwas Schweigen. Mit dem geistigen Seziermesser würde ste von jetzt ab alles zu ergründen suchen, würde kein ernst erscheinendes Wort mehr für wahr halten, bis sie den treibenden Grund erkännt hatte. Vorüber war der Sonnenschein des Lebens, der mit Vertrauen und Glauben zusammenhängt. Sie überlegte nicht und wog nicht ab, sagte sich nicht, daß, wenn ein Mensch täuschte und log, doch andere wahr und ehrlich sein konnten. „Alles ist Schein, alles ist Berechnung," so dachte sie jetzt. Und von diesem Standpunkt aus würde st« von jetzt an alles beurteilen. Sie zog den Verlobungsring vom Finger, packte ihn ein, ohne eine Träne zu vergießen und schrieb an Saldern: „Wenn jemand bedauert, daß Sie in Ihrer Berechnung derartig getäuscht worden sind, so bin ich es. Ich gebe Ihnen hiermit Wort und Ring zurück, um Sie nicht nochmals in die Verlegenheit zu bringen, gegen meinen Vater Worte zu äußern, die ich nie ver geben würde." Der Gräfin Lonska erklärte sie: „Tante, ich stehe völlig zu deiner Verfügung, gehe mit dir, wohin du willst. Ich bin durch nichts mehr gebunden." „Und Saldern?" „Der Brief, der ihm Ring und Wort ^urückgibt, ist schon unterwegs." Die Gräfin atmete tief auf, und ein weicher Aus druck zeigte sich in ihrem Gesicht. „Besser ist es, allein zu sein," sagte sie, „als un glücklich zu Zweien. Ich war immer eine Gegnerin deines Vaters, aber — und das werde ich ihm nie vergessen: er hat meine Schwester glücklich gemacht. Ihr Leben an seiner Seite ist, so weit er es in der Hand hatte, nur Sonnenschein gewesen. Er hat große Schüld a'Üf sich geladen durch übergroße, unkluge Verschwendung, aber das Glück, das er meiner Schwester gegeben hat, vergesse ich ihm nie. Um Saldern trauere nicht. Als ich ihn sah, stieg etwas in mir auf,, das mich geradezu reizte, ihn zu schlagen. Lutkas Lippen zuckten, aber kein Wort dränst über sie. Wie ein plötzlicher Frost zarte Blüten tötet, so war ein Erstarren über sie gekommen, das die Weichheit, die ihrem leidenschaftlichen Wesen beigegeben war, Hin sterben ließ. Als- Gräfin Lonska' ihr zwei Tage später sagte: „Wir gehen nach Florenz, dort kannst du dein schönes Talent weiter ausbilden," beugte sie sich dankbar über die Hand der Tante und küßte sie. Ja, Arbeit war das, was ihr jetzt not tat; Arbeit konnte ihr vielleicht dazu verhelfen, noch einmal durch sich selbst unabhängig und selbständig zu werden, was das kleine ihr gebliebene Kapital ihr doch nicht zu sicherte. Bei einem der ersten Künstler in Florenz setzte ste ihre Malstudien fort. Der Maestro hatte große Freude an seiner Schü lerin, die, wie er lächelnd erklärte, ihm schließlich den Ruhm ablaufen könnte. Zum ersten Male lächelte Lutka wieder, und zum ersten Male wieder zeigte sich der weiche Zug um ihren Mund, und doch blickte sie dann den Künstler an mit einem Ausdruck in den Augen, daß er geradezu er schreckt fragte: „Was ist niit Ihnen, Signorina? Glauben Sie mir nicht?" „Ich glaube nichts mehr, ich sehe nur noch." „Arme Signorina!" Sie hätte aufschreien mögen, aber sie blieb still. Bis Ende April wurde der Aufenthalt m Florenz ausgedehnt. Dann erfolgte die Rückkehr nach Paris. Auch dort sorgte die Gräfin dafür, daß Lutka ihr« Studien fortsetzen konnte. Im stillen hoffte sie, daß ihre Nichte, deren Schönheit selbst in den Pariser Kreisen auffiel, durch einen oder den anderen Herrn aus der hohen Aristokratie, die mit Vorliebe in ihren Salons verkehrten, ein Glück finden könnte, aber ste war klug und vorsichtig genug, das nicht anzudeuten. Im Sommer ging sie mit Lutka für längere Zeit nach Oberschlesien, ließ ihr aber, der Trauer wegen, völlige Freiheit in bezug auf geselligen Verkehr. Und diese Zartheit, die sie bekundete, erschien Lutka oft wie ein Wunder. Sie grübelte und suchte, wollte den Be weggrund erkennen, und mußte sich doch immer wieder sagen, daß hier kein Haschen nach Vorteil zugrunde liegen konnte. , So kam es, daß immer wieder einmal der weiche Zug sich zeigte, der früher ihren Mund umspielt und sie geradezu liebreizend hatte erscheinen lassen. Aber im Nu schwand dieser Zug auch wieder. Mit Christa von Bredow stand Lutka in brieflichem Verkehr, konnte sich aber, trotz liebevollster Aufforderung, noch nicht zu einem Besuch in Z. entschließen. Im nächsten Jahre wurde der Aufenthalt in Ober schlesien durch Krankheit der Gräfin verhindert. Lutka betrieb mit unermüdlicher Energie ihre Mal studien. Obgleich sie eine Deutsche war, hatte der Nam« ihrer Tante, die mit den maßgebenden Persönlichkeiten bekannt war, ihr zur Ausstellung eines ihrer Bilder im „Salon" verholfen, und das Bild war sofort von einem Amerikaner zu ziemlich hohem Preise erstanden worden. Da hatte Lutka aufgeatmet. Sie sah jetzt einen Weg vor sich, auf dem sie allein gehen konnte, der sie unabhängig von anderen machte. Und in der Kunst war Vergessen zu finden für so vieles. Die Hoffnung der Gräfin, daß Lutka ein wärmerer Interesse für einen oder den anderen bei ihr verkehren den Herren empfinden würde, hatte bis jetzt noch keine Erfüllung gefunden. Lutka nahm wieder an der Ge selligkeit teil, ihr altes, lebhaftes Wesen wachte von neuem auf, und wie früher nahm sie die ihr dargebrachten Huldigungen entgegen wie etwas, das sich ganz von selbst verstand, aber damit war auch die Grenze ge- zogen. lForfietzung folgt.)