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ZUR EINFÜHRUNG Ein deutsches Requiem „Wenn er seinen Zauberstab dabin senken wird, wo ihtn die Mächte der Massen in Chor und Orchester ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wundervolle Blicke in die Geisterwelt bevor.“ Mit diesen Worten führte Robert Schumann seinen jungen Freund, von dem er die Erfüllung,eigener Lebenswünsche erhoffte, in den „Düsseldorfer Singerverein" ein. Wie ein fahrender Wandergesell war Brahms in sein Haus gekommen. Schlank und rank, mit leuchtend blauen Augen in einem wahren Johanniskopf .stand er eines Tages vor dem leiderfahrenen Schumann. Prall war sein Ränzel. Volkslieder hatte er auf seiner Fahrt an den Rhein gesammelt, die „Ewige Melodie“ der deutschen Seele festgehalten. Er brachte aber auch zwei gewichtige Sonaten mit, die in fis-moll mit dem glückhaften Wurf des Scherzos und die orchestralgewaltige in C-dur. Ein wundersam zarter Freundschafts bund, in den auch Clara Schumann eingeschlossen war, umglänzte fortan sein einsames Leben, dem nie das Glück einer häuslichen Zweisamkeit beschieden war. Wien wurde dem norddeutschen Grübler, dessen Wiege in Hamburg stand, die Wahlheimat, doch weilte er oft und gern in Baden-Baden, am Thuner See, in Zürich, wo wesentliche Teile seines Requiems entstanden, nachdem er seine Kompositionstechnik am Lied, am Streichquartett, in Chor- und sinfonischen Werken gefeilt hatte. „Ein deutsches Requiem“ nennt er seine Totenklage, die zum ersten Male 1868 in Bremen erklang. Sie bringt keineswegs eine Übersetzung des alten lateinischen Messetextes, der in seinem Kernstück, dem Dies irae die Schrecken des jüngsten Gerichtes beschwört. Brahms fügte selbst Schriftworte aus dem Alten und Neuen Testament so zusammen, daß sie den Lebenden einen Trost geben und die Gewißheit: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.“ Wie das Werk mit einer Seligpreisung schließt, so beginnt es auch mit den Worten: „Selig sind, die da Leid tragen“. Es findet eine Parallele in den „Vier ernsten Gesängen", jenen weltweisen Liedern über die Ver gänglichkeit alles Irdischen, die er sich selbst zum Geburtstag schrieb. Lange und leidenschaftlich ist die F'rage diskutiert worden, ob das Requiem auf den Tod der über alles ge liebten Mutter komponiert wurde, wie sein Freund Joachim, der berühmte Geiger, glaubt. Wahrschein licher ist, daß Brahms in diesem Werk ein Vermächtnis Robert Schumanns erfüllen wollte, der in seinem Projektenbuche ein „Deutsches Requiem" verzeichnete, das freilich nie zur Aufführung kam. Diese An nahme scheint dadurch gestützt, daß gewisse Themen des Requiems sich in freier Weise an Schumannsche Melodien anlehnen. Wie dem auch sei, dieses deutsche Requiem ist ein einzigartiges Werk. Es sprengte weit den Rahmen einer konfessionell gebundenen Messe. Es wendet sich an die ganze Menschheit, hilft das Leid um unsere Toten tragen, tröstet und richtet auf, besonders mit dem nachkomponierten 5. Satz des Solosopranes „Ihr habt nun Traurigkeit“. Ernst und mild ist seine Tonsprache. Dunkler Violenklang mischt sich mit dem der Holzbläser. Verklärende Melodie wechselt mit machtvoller Polyphonie. Wenn Brahms nichts anderes hinterlassen hätte als dieses Werk, er würde doch zu den größten unter den deutschen Tonmeistern zählen, weil seine Musik aus einer wahren, gütigen Menschlichkeit quillt, weil sie aus tiefreligiösem Herzen kommt und darum zu Herzen geht. Prof. Herbert Meißner