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bei uns nicht minder wie in anderen Staaten durch die Ueberfüllung aller Berufsklassen an seinem Erwerbe geschmälert oder gar völlig gehindert wird. Die gelehrten Berufszweige sind fast ausnahms los in einer Weise überfüllt, dafs der voraussicht liche Bedarf für 6, 8, ja 10 Jahre im voraus gedeckt ist und die Behörden unter verschiedenen Formen Warnungen an die Abiturienten richten, welche nicht in der Lage sind, sich auch nach dem Staatsexamen noch eine längere Reihe von Jahren aus eigenen Mitteln zu unterhalten. Die Zahl der Gymnasialabiturienten in Preufsen beläuft sich auf etwa 4000 im Jahr, und es dürfte fraglich sein, ob mehr als die Hälfte davon sich in dieser Vermögenslage befindet, die andere Hälfte bildet den Jahreszuflufs zum „Abiturienten proletariat“, und wenn sie trotz dieser War nungen sich dem gelehrten Studium widmen, zum „Gelehrtenproletariat“. Welches sind nun die Ursachen, die trotz dieser geringen Aussichten auf Stellung und Er werb bei uns so viele junge Leute alljährlich auf die Gymnasien treiben, und wie kann dieser unge sunde Andrang abgewandt werden? Zunächst ist mafsgebend der natürliche Wunsch der Eltern, ihre Kinder mit einer Schulbildung auszurüsten, die ihrem Stande nicht nur entspricht, sondern dieselben womöglich befähigt, eine oder einige Stufen höher in der gesellschaftlichen Leiter zu klettern, als es ihnen selbst beschieden war. Ob die Jungen zu einer gelehrten Laufbahn den richtigen Kopf und die richtigen sonstigen Anlagen haben, kann man denselben bekanntlich in der Jugend nicht an der Nase ansehen. Die gelehrte Laufbahn aber hat von alter Zeit her einen be sonderen Reiz für uns Deutsche und namentlich für die deutschen Mütter gehabt, gelten doch die Gelehrten als die Hüter der idealen Güter ihres Volkes, und sie haben doch auch gewifs dazu in erster Linie mit beigetragen, dafs durch lange Finsternifs hindurch in unserer Nation der Glauben an sich selbst und eine bessere Zukunft nicht erstorben ist. Namentlich auch diejenigen gelehrten Berufs zweige, die die Pforten des höheren Kirchen- und Staatsdienstes mit seinem Ansehen, seiner sicheren Versorgung mit Pensionsrecht und Wittwengeldern öffneten — und die meisten thaten das ja — haben von je mit besonderer Gewalt sowohl die Ehrgeizigen angelockt, als auch die Bequemen und Vorsichtigen , die ein sicheres , wenn auch bescheidenes Einkommen dem Haschen nach den immerhin unsicheren goldenen Hesperiden-Aepfeln des freien Erwerbslebens vorzogen. Zu diesem Phalanstere des Staatsdienstes, dieser Hochwacht vornehmster Bildung führt bei uns seit Generationen kein anderer Weg als die hohle Gasse des Gymnasiums mit dem Maturitäts- und Staatsexamen im Hintergründe, und soviel „allzu leicht geschürzte Pilger“ in letzteren auch von Teils Geschossen erreicht werden, wie die Lem minge drängen die Adepten stets nach, denn die Eltern, welche ihren Söhnen diese höchste Stufe menschlicher Vollkommenheit und Glückseligkeit nicht von vornherein verschliesen wollen, müssen sie wohl oder übel aufs Gymnasium schicken. Derjenige Procentsatz von Gymnasiasten, der es überhaupt bis zum Abiturientenexamen bringt, ist aber nun auch ebenso auf das Studium hinge wiesen , wie der Primaner auf das Maturitäts examen, da die Berufskreise, die ihm das letztere allein und direct eröffnet, für den Ehrgeiz wie für,die Versorgung nicht allzu lockend sind. Auch bereitet zum Uebergang ins praktische Leben, ja sogar für die höhere Baucarriere und die tech nischen Hochschulen das Realgymnasium und die Oberrealschule zweifellos besser vor, als das Gymna sium. Der Schüler des letzteren ist also nur, wenn er sich für ein Facultätsstudium entscheidet, zwar nicht seinem Wissen, aber doch seiner formellen Berechtigung nach, allen anderen voraus. Dort winkt ihm zugleich das fröhliche Burschenleben mit seiner Ungebundenheit und seinem bunten Zauber als wohlverdiente Erholung nach des Maturus grofser Qual. Wer will sich da auf den Lehrlingsschemel eines Bureaus oder Comptoirs setzen und Hausknechtsdienste thun, wie es die böse Tradition unserer Geschäftswelt leider meistens mit sich bringt? Nein, wenn es eben geht, studirt der Abiturient. Und es ging und geht, wie es gehen kann und wie es gehen mufs, wo bei der grofsen Mehrheit nicht ein innerer Trieb, nicht ein geistiger Zug entscheidend für die Wahl des Berufs gewesen, sondern wo die üble Nothwen digkeit zur Entscheidung zwischen einer bestimmten Reihe von gleichgültigen Brotstudien drängt und die Rücksicht auf die vorhandenen Mittel dabei nicht den letzten Entscheidungsgrund zu bilden pflegt. Die Examenprobe liefert, nach den über einstimmenden Urtheilen der Examinatoren und derer, die die Approbirten hernach in der Praxis zu verwenden haben, in quanto Ueberflufs, in quali durchschnittlich schwaches Mittelgut. Infolge dieses Ueberangebots haben Staat, Kirche und Commune stets die reichste Auswahl; um Gehälter, die ein angesehener Kaufmann einem brauchbaren Commis nicht anbietet, sehen wir bis auf den heutigen Tag in Staats- und Commu- naldienst eine Concurrenz unter studirten, graduirten und examinirten Leuten entbrennen, die schon mehr in Ringkampf ausartet und geradezu unver ständlich wäre, wenn man nicht wüfste, dafs nur ein verhältnifsmäfsig sehr kleiner Theil dieser gelehrten Herren geeignet ist und den Muth hat, sich im freien Wettbewerb des geschäftlichen Lebens eine seinen gesellschaftlichen Ansprüchen entspre chende Existenz zu begründen. Hier liegt unseres Erachtens der Hase im Pfeffer, hiervon kommt das Abiturienten Proletariat.