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STAHL UND EISEN. April 1889. Nr. 4. 317 höheren Schulverhältnisse, mit denen die Ver waltung selbst so wunderbar zufrieden ist, schon reiht lange für dringend reformbedürftig hält und es bereits für nöthig findet, der auch jetzt wieder so offen und harmlos eingestandenen Rathlosigkeit der Verwaltung ihren dringendsten Aufgaben gegenüber mit werkthätiger Theilnahme, fachkundigem Rath und »Scharfsinn« beizuspringen. Wenn das lächerlich ist, und nach der »Heiterkeit« des hohen Hauses mufs es das doch wohl gewesen sein, dann können zweifellos die 344 Autoren jener Reformvorschläge aus vollem Herzen mitlachen 1 Im übrigen trug die Rede dem Herrn Minister auch ein »Im ganzen befriedigend« seitens des Hin. Windthorst ein, der seinen Beruf, über den Werth der Realien und der neueren Sprachen zu urtheilen, durch das klassische Wort erhärtete, dieselben pafsten für Mädchenschulen, aber nicht für Männer, die sich der Wissenschaft widmen wollten. Es mag im »Kampf um die Schule«, den die besagte kleine Excellenz Hrn. von Gofsler ja öffentlich angesagt hat, und im Nachschwinden des Culturkampfs für den Minister der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten taktisch nicht unrichtig sein, denselben nicht ohne Noth zu reizen, aber die Existenz der 89 Realschulen mit ihren 29 000 Schülern ist denn doch ein etwas zu hoher Preis für sein placet. Anderer seits aber könnte doch auch das zufriedene Lächeln gerade dieses Gewaltigen wohl geeignet sein, den Minister an der Zweckmäfsigkeit der von ihm beliebten Mafsregeln — wenigstens für Deutschland und Preufsen — etwas irre zu machen! Indessen das sind nicht unsere Sachen. Wir sehen in diesem Beimaltenlassen, in diesem ewigen Satteln und niemals Reiten schon lange nicht mehr das, was es scheinen will — eine Mafsnahme c o nse r va t i ve r Vorsicht, die an dem Bestehenden nicht gerne rütteln mag — sondern im Gegentheil ein in conservative Maske gestecktes, geräuschlos vollstreckbares Todes- Urtheil über die Preufsischen Oberrealschulen und Realgymnasien, welches bisher nicht offen vertreten worden ist. Zehn Realschulen sind nach dem Jahrbuch für Preufsische Statistik (der Herr Minister giebt, wahrscheinlich genauer, deren nur neun an) dieser abschnürenden Be handlung der Schulverwaltung bereits zum Opfer gefallen und in Hu man gymnasien um gestaltet oder übergeführt worden. Als solche schicken sie jetzt 84% ihrer Abi turienten zur Universität, während sie bisher als Realgymnasien nur 23% dahin entsandten. Das ist gewifs eine sehr eigenthümliche Art, der Ueberfüllung der Uni versitäten entgegenzuarbeiten, und die Logik dieser Thatsache zeigt ganz unwiderleglich, dafs die von IV.s dem Herrn Minister so ängstlich verschlossen ge haltenen Schleusen den natürlichen Strom nicht sowohl zurückgehalten, sondern nur um gelenkt haben. Es ist diese Schleusentheorie ungefähr ebenso zweckentsprechend, als wenn man glaubte, die Uebervölkerung eines Landes beseitigen zu können etwa durch das Verbot, in der zweiten Hälfte eines Monats eine Ehe zu schliefsen. Wer heirathen will und kann, der heirathet dann in der ersten, und wer studiren will und die Mittel hat, der studirt, auch wenn die Realgymnasien die Berechtigung nicht haben, er giebt eben als der Klügere nach und geht auf das Human gymnasium — voilä tout. Nein, mit solch äufserlichen Geberden und Mitteichen heilt man den »ungesunden« Zudrang zu den Hochschulen ganz gewifs nicht. Man veröffentliche alljährlich rechtzeitig vor Ostern die Frequenzziffern der verschiedenen Facultäten, füge denselben einen amtlichen Voranschlag für die rechnungsmäfsigen Aussichten für den Staats dienst in den nächsten 3 bis 4 Jahren bei sowie einen Hinweis auf solche Berufszweige , wo eventuell bessere Aussichten sind für einen jungen Mann, der etwas Ordentliches gelernt hat und sein Brot ehrlich verdienen will. Wenn man das letztere aber nicht kann — und der Herr Minister dürfte heute nicht in der Lage sein, einen solchen Nachweis zu geben — dann sollte sich die Regierung doch recht sehr bedenken, den Leuten, denen sie nicht helfen kann und nicht helfen will, nun auch noch zu verwehren, dasjenige zu lernen, womit sie selbst am besten durch die Welt kommen zu können glauben. Wenn durch Verweigerung der Rechte ein Realgymnasium vor die Existenzfrage gestellt wird, so bleibt ihm eben kein anderer Weg übrig, als Humangymnasium zu werden und damit sein Publikum von der realistischen Bildung zur humanistischen herüberzuzwingen. Dafs damit weder der einen noch der andern und am wenigsten den Universitäten gedient ist, wird wohl nicht ernstlich bestritten werden. Nimmt man noch hinzu, dafs nach den amtlichen Auf zeichnungen trotz jener Umwandlungen von neun Realgymnasien, deren Zahl nicht gesunken ist, also ebenso viel Neugründungen stattgefunden haben müssen, so zeigt sich deutlich, dafs der Erfolg des Herrn Ministers bezüglich des Univer sitätsbesuchs, also seiner allerwichtigsten Frage, erheblich geringer ist, als das Zutrauen der ge bildeten Klassen zum Realgymnasium. Im grofsen und ganzen — um mit Hrn. Windthorst zu sprechen — kann man mit dem Resultat der Verhandlungen zufrieden sein, nicht nur ist die frühere Theilnahmlosigkeit des Hauses einem lebhaften Interesse gewichen — nur die conservative Fraction hat die Frage zur »Fractions- sache« gemacht — sondern die Erklärungen des 9