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STÄHL UND LISEN? Äpril 1889. Nr. 4. 815 Paulsen bestätigt dies unter gewissen Be schränkungen wie folgt: „Der Nothstand, unter dem das Gymnasium leidet, ist, dafs es als einzige Vorbereitungsanstalt für die Universität Allen Alles sein soll. Da durch wird seinen Lehrern und Schülern die er drückende Pensenarbeit auferlegt, dadurch werden die Klassen mit Schülern gefüllt, die mit ihren Neigungen und Anschauungen auf alles Andere, als auf den klassischen Unterricht gerichtet sind und durch ihr massenhaftes Dasein dem ganzen Schulbetrieb Freiheit und Freude rauben. Erst wenn es neben dem altsprachlichen Gymnasium einen andern Weg zur Universität geben wird, kann es sich seiner Aufgabe wieder mit ganzer Kraft und Zuversicht widmen.“ — — — — „Ich meinte nun zu sehen, dafs dieser sich darstellt als fortschreitende Entfernung oder Los lösung der modernen Cultur vom klassischen Alterthum. Die Folge ist, dafs die alten Sprachen und Literaturen auch in der Gelehrtenschule nicht die Stellung behaupten können, die sie noch heute, obwohl schon schwer bedrängt von den modernen Bildungselementen, einnehmen. Das Ende wird ein Zustand sein, wo die euro päischen Culturvölker die Bildung ihrer Jugend im wesentlichen aus eigenen Mitteln bestreiten werden. „Das ist auch heute noch meine Ueberzeugung. Ich glaube nicht, dafs es im Jahre 1989 oder 2089 noch üblich sein wird, die Zulassung zu wissenschaftlichen Studien von der sogenannten klassischen Bildung abhängig zu machen; auch dann wird noch Latein und Griechisch gelernt werden, aber nicht von Allen, die studiren sollen, und nicht in der Meinung, dafs erst hierdurch eine »menschenwürdige« Bildung erlangt werde. Ich vermag darin auch kein Unglück zu erblicken: Halbculturvölker suchen die »Bildung« in der Fremde. „Dagegen war und bin ich keineswegs der An sicht, dafs man heute oder morgen das Gym nasium oder den klassischen Unterricht überhaupt abschaffen solle oder könne. Dafs gegenwärtig für Theologen, Philologen, Historiker der alt sprachliche Unterricht unentbehrlich, für Juristen nicht unzweckmäfsig sei, dafs auf die Kenntnifs der lateinischen Sprache gegenwärtig Niemand, auch nicht der Studirende der Medicin oder der Naturwissenschaft, verzichten könne, habe ich niemals bezweifelt; wenn heute Jemand ohne Latein auf die Universität käme, so würde er, auch ohne durch Reglements gezwungen zu werden, nachträglich Latein lernen, wenn anders es ihm nicht blofs um das Examen, sondern um das wissenschaftliche Studium Ernst wäre. — Hierüber ist auch unter den Realschulmännern kein Zweifel; nicht die Abschaffung des alten, sondern die Gleichstellung des neuen Gymnasiums wird von ihnen gefordert.“ Sogar Ernst Curtius in seiner Festrede zu Kaisers Geburtstag, die die Unterpfänder einer gedeihlichen Zukunft Deutschlands in Religion, klassischer Bildung seiner Beamten und Gelehrten und in dem Geschlecht der Hohenzollern findet, also das eigene Nationalgefühl unseres Volkes nicht mehr unter die drei mächtigsten Unterpfänder seiner Zukunft zählt, sagte Folgendes: „Der Unterricht im Griechischen und Latei nischen mufs lebendiger und geschichtlicher werden, und man mufs es, wie ich glaube, zu erreichen suchen, dafs auf der obersten Stufe des gemeinsamen Jugendunterrichts mehr Frei heit gegeben werde. Die Schlufsprüfung, welche an Jeden, wefs Geistes Kind er ist, unterschieds los und unerbittlich dieselben Forderungen stellt, legt einen Zwang auf, der leicht dahin wirkt, den beginnenden Flügelschlag des Geistes zu lähmen und in der schönsten Zeit des Lebens die freie Liebe zur Erkenntnifs dämpft. Unsere Jünglinge sollen keine Dutzendmenschen werden; sie müssen, wenn ihre besonderen Anlagen sich zu erkennen geben, auch Freiheit haben, sie zu entfalten.“ Also sogar dieser orthodoxe Philhellene, der in dem Hellas des Plato und Aristoteles der «Ströme Mutterhaus« erblickt, von dem die Quellen der Bildung und Erkenntnifs aller Zeiten, aller Völker und aller Länder gespeist werden bis auf diesen Tag, sieht sich zu einer Aner kennung veranlafst, die doch wenigstens so ge deutet werden kann, als ob er das griechische Exercilium Und den lateinischen Aufsatz weder als Schutz gegen das Dutzendmenschenthum noch auch nur als eine unerläfsliche Vorbedingung wenigstens für eine nationale Bildung ansähe 11 Das ist doch eigentlich schon viel, und für uns, die wir eine auf nationaler Grundlage und von den Elementen der heutigen Gultur und Literatur durchsetzte und getragene Bildung in jeder Hinsicht für ebenbürtig halten mit einer classischen, ist es eigentlich völlig genug und für die Berechtigungsfrage auch. Denn unsere Universitäten sollen nicht aus- schliefslich und nicht in erster Linie Seminarien sein für die kosmopolitische Republik der Be rufs- und Fachgelehrten, sondern an erster Stelle deutsche Hochschulen, d. h. Pflanzstätten nationalen Sinnes und nationaler Bildung, und für solche sind Geschichte und Literatur unserer Zeit, die exacten Wissenschaften und die lebenden Sprachen der Culturvölker lebendigere, reichere und vor allen Dingen nähere Quellen, die nicht nur wenigen bevorzugten Geistern, sondern dem gesammten Mittelstand unseres Volkes in vollem Umfange erreichbar und werth- voll sind.