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314 Nr. 4. April 1889. STAHL UND EISEN. Bewegung ein gewisser, Knoblauch und Deutsch freisinn atmender, Parfüm officiös angedichtet. Männer, deren Beruf sie unter eine andere Fahne rufen müfste, kämpfen mit Ostentation und, wie es scheint, nicht zu ihrem Nachtheil wider die Lebensinteressen, deren Vertretung ihnen nach gewöhnlichem Dafürhalten Pflicht sein sollte. Mit Ausführungen, deren Salz gewifs niemals attisch war, und an denen nicht einmal die Grobheit mehr klassisch ist, bezichtigen namhafte Gelehrte die neuphilologisch-naturwissenschaftliche Richtung des schnöden Banausierthums, eines ge meinen Erwerbssinnes u. s. w., nehmen für sich die patentirte Erzeugung des wahren Idealismus in Anspruch, um in demselben Athemzug die wesent lichsten Principien ihrer Schule und Lehre preis zugeben für die Erhaltung des doch sehr materiellen Monopols derselben. In dieses unschöne Getöse fanatisch erregter Geister klingen neuerdings immer mehr erfreu liche Klänge hinein und lassen der Hoffnung Raum, dafs es möglich sein wird, den Kampf aus der Strafse wieder in die Arena zu verlegen, wo er nicht mit unhaltbaren Angaben und giftigen Worten, sondern nur durch Thatsachen und gute Gründe geführt werden darf und wo er allein eine sachliche, würdige und heilsame Lösung finden kann. Man beginnt auf Seiten der Vertreter des Classi- cismus einzusehen, dafs die bisherige Art, die Lösung der wichtigen Frage hinauszuschieben, für die Gegenwart zwar die Existenz der Real gymnasien und Ober-Realschulen bedrängt, dafs aber die Zukunft der Humangymnasien noch viel ernster gefährdet wird, wenn man durch hart näckiges non possumus die natürliche Reaction des Bedürfnisses und der öffentlichen Meinung noch weiter reizt und herausfordert. Und neben dieser rein sachlichen Erwägung der Klugheit kommt auch die Stimme der Billig keit und des Selbstgefühls zum Ausdruck, die nicht einem gesetzlichen Monopol, sondern der eigenen tüchtigen Leistung ihre Stellung im Leben verdanken will. Es ist geradezu herzerquickend, wenn die un erfreuliche Lectüre der bezüglichen Literatur unterbrochen wird durch Oasen, wie den präch tigen Aufsatz des Gymnasialoberlehrers Dr. Gauer in Nr. 4. des »Deutschen Wochenblatts«, der eine Kritik des Standpunktes von Professor Paulsen (Verfasser der Geschichte des gelehrten Unterrichts) zur Berechtigungsfrage enthält und dessen ebenso sachgemäfse und urbane Erwiderung in Nr. 6 derselben Zeitschrift. Cauer schreibt u. A.: „Diese Entwicklung hat im wesentlichen darin bestanden, dafs dem Gymnasium zu seiner ur sprünglichen Aufgabe, Latein und Griechisch zu lehren und in den Geist des klassischen Alter- thums einzuführen, noch die zweite auferlegt wurde, auch in der gegenwärtigen Welt mit ihrer realen Mannigfaltigkeit den Schüler zu orientiren. Dieselbe öffentliche Meinung, die heute so laut wegen Ueberbürdung klagt, hat, indem sie nach Vermehrung der Kenntnisse in Mathe matik, Naturwissenschaften, Französisch, Ge schichte, Geographie verlangte, der Regierung ein Zugeständnifs nach dem andern abgeprefst und dem Lehrplan eine immer drückendere Fülle verschiedenartigen Stoffes zugeführt.“ — — „Denn das ist der verhängnifsvolle Irrthum, an dem unser höheres Schulwesen seit länger als einem halben Jahrhundert krankt, dafs man geglaubt hat, eine Universalbildung zu besitzen, die für alle Menschen passen müsse. Die Ab neigung, die offenbar jetzt in weiten Kreisen gegen das Gymnasium herrscht, würde nicht entstanden sein, wenn nicht im Laufe der Jahr zehnte immer mehr Menschen gezwungen worden wären, sich der Alleinherrschaft des Gymnasiums zu unterwerfen. Beneficia non obtruduntur! Das ist allen starken Ideen eigen, dafs sie den be geistern, in dem sie lebendig erwachsen sind, und den empören oder entkräften, dem sie wider seinen Willen eingepflanzt werden sollen.“ — „Was noth thut, ist: gleichmäfsige Pflege der drei Formen höherer Schulen, die sich geschicht lich entwickelt haben (Gymnasium, Realgymna sium, Oberrealschule); Aufhebung der äufseren Beschränkungen, die zweien von ihnen das Leben verkümmern; Befreiung des Gymnasiums von dem Monopol, unter dem es zu erliegen droht. Wir Philologen müssen auf den Anspruch ver zichten, dafs der Weg durch das Gymnasium der einzige sei, der zur Bildung führt; nur dann dürfen wir hoffen, für die geringere Anzahl der jenigen, die in Zukunft ihn beschreiten werden, den Weg selbst wieder gangbar zu machen. Oder fürchten wir, dafs er ganz veröden werde, wenn Niemand mehr gezwungen ist, ihn zu gehen? Nein! Es wird ein ernster, aber auch ein fröhlicher Wettkampf werden, in dem der Gedanke, den wir vertreten, mit den geistigen Mächten einer neuen Zeit sich messen soll. Möge uns nur gestattet werden, zu zeigen, dafs wir, um einen solchen Kampf anzunehmen, nicht blos den Muth besitzen, den ein Mann wie Paulsen leichthin uns abspricht, sondern dafs uns auch die Kraft nicht fehlt, um ohne den Schutz des Privilegs, um das die Gegner uns beneiden, im ehrlichen Streite mit Ehren zu bestehen.“ Auf Grund dieses Standpunktes nimmt er Paulsen, der um einiger heftiger Ausfälle wider das heutige Gymnasium als »Realist« verketzert wurde, vielmehr als einen Vertheidiger des Klassi- cismus oder doch des »alten« unverwässerten Gymnasiums in Anspruch.