Volltext Seite (XML)
Tausende in falsche Berufswege, unrichtige Bil dungsgänge und in berechtigte Unzufriedenheit mit den wichtigsten Staatseinrichtungen gedrängt werden. Und weshalb? Weil sich die entschei dende Instanz seit 30 Jahren nicht hat entschliefsen können, einen Schritt zu thun, der ihr absolut nicht erspart bleibt: die nationale Bildung des neuen Deutschen Reichs und unserer Zeit für ebenbürtig anzuerkennen mit der klassisch internationalen der Refor matoren. Welche Ursachen für diese immerhin auf fallende Erscheinung vorliegen, ist schwer zu erweisen. Der Widerspruch der beati possidentes, das begreifliche Widerstreben älterer Leute, noch mals sehr viel Neues zulernen zu müssen, oder dem Amt nicht mehr zu genügen und auf den Aussterbe-Etat gesetzt zu werden — all das mögen immerhin Wurzeln des Uebels sein. Auch das gelegentliche geflügelte Wort Bismarcks, »dafs die Begeisterung für das Griechische wohl blofs daher komme, weil die Gelehrten nicht im Werthe mindern wollen, was sie selbst mühsam erworben haben « (Busch, Der Reichs kanzler und seine Leute, I, 193), trifft zweifellos auch in sehr vielen Fällen zu, aber allerdings nicht für die entscheidende Stelle, da liegt die Sache noch anders. Dort mufs die Angelegen heit wohl oder übel nach der Analogie des pro- cessualischen Verfahrens behandelt werden, wo der Richter in denjenigen Materien, die ihm ferner liegen oder völlig fremd sind, und über die er trotzdem zu richten hat, auf der Grundlage von Gutachten sich sein Urtheil bilden mufs und in mifslicher Lage ist, wenn die Gutachter sich fort während und heftig bekämpfen und widersprechen. Im letzten Reichstag sprach sich bei Gelegen heit des Marine-Etats ein Abgeordneter gegen die Bewilligung von Geldern für Panzerschiffe aus, weil die Gelehrten noch nicht über die zweckmäfsigste Art derselben, ja sogar noch nicht einmal darüber einig wären, ob man-nicht an deren Stelle überhaupt ganz etwas Anderes setzen werde. Man hat ihn ausgelacht und mit Recht an jenen Mann erinnert, der sich, weil er nicht gern ins Wasser wollte, am Ufer des zu überschreitenden Baches niederliefs, um zu warten, bis derselbe abgelaufen sei! Man kommt nun einmal nicht immer trockenen Fufses auf unserem Planeten durch. Man mufs zuweilen ins Wasser, auch wenn es nafs ist. Auf das Allerzweckmäfsigste zu warten, ist selten das Richtige, meistens unmöglich, aber in Deutschland warten wollen, bis Gutachter, Ad- vocaten, Gegenadvocaten und Interessenten über eine Principienfrage einig sind, das kann unmög lich als Ernst genommen werden! Und um was handelt es sich eigentlich? Um „Beseitigung des Griechischen, Beschrän- „kung des Lateinischen, der alten Geschichte auf „den Gymnasien und dadurch Untergrabung jener „geistigen Gymnastik, jenes nur aus den klassischen „Schriftstellern zu schöpfenden Idealismus u.s.w.?“ Durchaus nicht; im Gegentheil, der Real schulmännerverein, dessen Sache die älteste ist, will dem Gymnasium Alles lassen, was es an klassischem Lehrapparat hat, er verlangt nur, dafs dem Realgymnasium die Universität gerade so erschlossen werde, wie dem Humangymnasium, da es, wie dieses, einen neunklassigen Cursus hat, wie dieses eine' allgemeine Bildungsanstalt und keine Fachschule ist, laut ausdrücklicher An erkennung der Prüfungsordnungen von 1859 und 1882, da seine Abgangsprüfung mindestens gleich grofse Ansprüche an Kenntnisse und gei stige Entwicklung der Abiturienten stellt, wie das Humangymnasium, und weil es für den gröfseren Theil der Facultätsstudien mindestens ebensogut vorbereitet, wie das Humangymnasium. Er ist im ganz conträren Gegentheil der Meinung, dafs sowohl die Reform von 1882, welche das Gymnasium realisiren und die Real schule latinisiren sollte, als wie die weiteren Reformen, die jetzt geplant werden, wie z. B. das Fallenlassen des lateinischen Aufsatzes im Gymnasialmaturitätsexamen geradeswegs Ver sündigungen an der Eigenart beider Bildungs richtungen sind, die dieselben in ihrer Leistungs fähigkeit beschränken und in ihrer natürlichen Entwicklung zu gunsten der Schablone gefährden. Die Humangymnasien von heute sind nicht mehr das, was sie vor 10 Jahren noch waren, und die Realgymnasien erst recht nicht; jene haben ihr eigenstes Pensum herabgesetzt, diese sind überlastet und die geträumte Einheitsschule, zu der diese unglückliche Mafsregel eine Etappe sein sollte, ist dadurch der Möglichkeit um keines Haares Breite näher gerückt. Es war eben nur der Knüppel, der zwischen die Hunde flog, damit sie sich beifsen und nicht mehr nach der gleichen Seite ziehen sollten. Denn man war kopfscheu geworden durch das immer mehr in den Vordergrund tretende Ver langen auch der lateinlosen neunklassigen Real schule, zur Universität zu entlassen. Mit dem Realgymnasium allein hätte man es vielleicht riskirt — aber auch jenen Banausen, die weder ävpa uot EvVene uoo noch auch nur »arma virumque cano« oder »infandum regina jubes« citiren können, die geheiligten Hallen der deutschen Hochschule zu öffnen — das war zu viel; 0ßag p‘ xet coaxvovta. Der alte Anspruch der Realgymnasien ist neuerdings durch den weitergehenden Anspruch der Oberrealschulen erheblich erschwert, und der Verdacht von verschiedenen Seiten laut geworden, dafs das zeitlich nicht glückliche Her vortreten dieser weitergehenden Ansprüche vor Erledigung der älteren und bescheideneren an entsprechender Stelle nicht ungern gesehen,