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April 1889. „STAHL UND ESEN.“ Nr. 4. 309 dafs überhaupt unsere industrielle Arbeit in Frage gestellt wurde, die industriellen Arbeiter also überhaupt keinen oder sehr geringen Lohn ver dienten. Und da sagte ich mir: Dann ist es immer noch besser, die Leute verdienen und können sich Brot kaufen, wenn auch etwas theurer, als sie verdienen gar nichts und können sich also überhaupt kein Brot kaufen.“ Braucht man also nicht zu bezweifeln, dafs bei klar gestellter Wahldevise das Princip des Schutzes der nationalen Arbeit nicht verleugnet werden würde, dann wird man auch als Thatsache hinnehmen müssen, im Zolltarif eine Position »Getreide« ver bleiben zu sehen. Damit ist aber die Frage noch lange nicht entschieden, wie hoch diese Position bemessen sein soll und bemessen sein mufs, um ihrem Zwecke entsprechend unter Berücksich tigung aller Interessen zu wirken. Dieses ist doch aber offenbar eine Frage, die nicht nach bleiben den principiellen, sondern nur nach wechselnden opportunistischen Gesichtspunkten entschieden werden kann. Ueber diese Frage entscheidet aber trotzdem merkwürdigerweise der Reichstag, — und noch dazu nach Parteistandpunkten ! Und nicht nur über diese Tarifposition und ihre Höhe, sondern über Erspriefslichkeit und Angemessenheit einer jeden andern auch! Wie es bei solchen Entscheidungen zugeht, darüber hat man ja einige ganz interessante Erfahrungen gemacht, indem im Reichstag beschlossene und Gesetz gewordene, noch gar nicht oder kaum in Kraft getretene Zollsätze derartige »Irrthümer« enthielten, dafs sie schleunigst wieder aufgehoben werden mufsten. Bei allem Respect vor dem Parlamentarismus, bei dem es genau so wie bei dem Bureaukratis- mus ist, dafs nämlich das in seinem Falle durch die Wahl ertheilte Amt auch den Verstand mit bringt, — bei aller Hochachtung vor der wirth- schaftlichen Gapacität aller bisherigen, gegen wärtigen und zukünftigen Reichstagsmitglieder und eines jeden einzelnen von ihnen, wird man doch bezweifeln dürfen, dafs für jede einzelne der zahllosen Positionen des Tarifs auch nur fünfzig Männer im Hause wären, die wirthschaft- lieh und technisch selbständig und zutreffend zu beurtheilen imstande sind, ob zur Zeit, ge schweige denn in Zukunft, diese eine Position erspriefslich und nothwendig und in welcher Höhe angemessen ist. Thatsächlich liegt die Sache so, dafs die Abstimmung im Reichstag über Tarifpositionen nach dem Gesichtspunkte, ob Freihandel oder Schutzzoll, erfolgt; die Freihändler sind stets geneigt, »Nein«, die Schutzzöllner disponirt, »Ja« zu sagen, wenn eine Position in den Tarif ein gestellt werden soll; und über die Höhe derselben folgt die Mehrheit dem Urtheil einer sehr geringen Zahl von Männern, dessen Werth und Begründung kaum einer Gontrole unterzogen werden kann. Könnte man nun nicht zu einem alle Theile besser befriedigenden Zustande gelangen, indem man dem Reichstag die Mitentscheidung über das wirthschaftspolitische Princip und allgemeine Normen seiner Durchführung beliefse, die zoll technische Entscheidung aber einer Instanz über trüge, bei der ein höheres Mafs von wirklichem Sachverständnifs obwaltet, als im Plenum eines Parlaments obwalten kann? Um politische Einwände gegen eine solche Beschneidung der Rechte des Reichstags abzuwehren, könnte man ja dem Reichstag ein Wahlrecht für diese In stanz sichern. Dann könnte ein Zustand ent stehen, in dem das Gesetz das Princip und seine Ausführungsnormen, die Verordnung aber, welche den Verschiebungen im Wirthschaftsleben weit leichter und sicherer folgen kann als das Gesetz, die Details regeln und damit der Kampf um eine und die andere Tarifposition aus dem Parteistreit losgelöst würde. Aber freilich, ein Umstand steht dem ent gegen ; das ist das steuerfiscalische und damit finanzpolitische Interesse, welches, wenn auch nicht in jeder, so doch in allen wuchtigeren Tarifpositionen steckt. Und hier liegt auch die eigentliche Schwierigkeit, welche bei Verfolgung des hier aufgeworfenen Gedankens zu lösen wäre. So lange im Zolltarif indirecte Verbrauchssteuern, wie z. B. der Kaffeezoll, friedlich neben Schutz zöllen auf Eisen und Getreide u. s. w. stehen, wird es sehr schwer halten, die Details der Zoll fragen aus dem Parteistreite auszuscheiden.* Aber gerade der Umstand, dafs auch jetzt wieder, und sicherlich bei den herankommenden Reichstags wahlen, die Gegner der nationalen Wirthschafts- politik ihre principielle Gegnerschaft hinter einem Streite um eine ihrer Höhe nach möglicherweise anfechtbare Tarifposition maskiren, sollte doch nahelegen, sich ernsthaft mit der Frage zu be fassen , ob diese Ausscheidung nicht möglich und im wohlverstandenen Interesse Aller geboten wäre. —en. * Der gleiche Gedanke findet sich in Steins »Hand buch der Verwaltungslehre«, 2. Auflage, 2. Theil (1888), wo es Seite 834 heifst: „Denn offenbar haben Steuerzoll und Schutzzoll einerseits wesentlich verschiedene Objecte, und zwei tens wesentlich verschiedene Zwecke, aus welchen beiden dann wesentlich verschiedene Zollsätze für die zu verzollenden Güler entstehen. Die Consequenzen dieser Verschiedenheit für den Zoll sind nun an sich so einfach, dafs es keine Schwierig keiten haben würde, sie darzustellen, wenn nicht aus naheliegenden praktischen Gründen die bestehenden Zolltarife stets den Steuerzoll und den Schutzzoll ohne irgend eine Unterscheidung in eine stets für beide gemeinsame Gesetzgebung zusammenfafsten und dadurch vermöge der Interessen, welche sich nie an das gesammte Zollwesen, sondern immer nur an einzelne Zollsätze knüpfen, die Beurtheilung des Ganzen verwirren, indem sie Vortheil oder Forderungen in betreff bestimmter Zollsätze auf den gesammten Zolltarif übertragen und den gesammten Charakter des letzteren darnach bestimmen zu können glauben.“ Die Red. 1V.5 8