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308 Nr. 4. n stahl und eisen? April 1889. eine dem Schulze der nationalen Arbeit abgeneigte oder doch weniger geneigte Mehrheit bekäme, als sie der jetzige zu seinem Ruhme und dem Wohle der wirthschaftlichen Interessen des Landes aufweist. Ob ein Land für sein Wirthschaftsgebiet frei-, händlerische Handelspolitik betreiben oder das Princip des Schutzes der nationalen Arbeit accep- tiren will, ist eine Frage von so tief einschneiden der politischer, socialer und wirthschaftlicher Be deutung, dafs ihre Entscheidung jedenfalls unter Mitwirkung der Volksvertretung, für Deutsch land also unter solcher des Reichstags, erfolgen mufs. Wenn man aber jetzt seit zehn Jahren beobachtet hat, wie die politischen Parteien für ihre agitatorischen Zwecke mit den wirth schaftlichen Interessen des Landes Fangball spielen, und wenn in sicherer Aussicht steht, dieses Spiel bei den nächsten und ferneren Reichs tagswahlen sich in aller ihm eigenen Anmuth und Grazie wiederholen zu sehen, dann mufs sich doch die Frage aufdrängen, ob es den wirthschaftlichen Interessen Aller entsprechen kann, aufser jener Principalentscheidung auch diejenige über Höhe und Angemessenheit der einzelnen Zollsätze dem Reichstage übertragen zu sehen. Setzen wir einmal den Fall, die Verderblich keit der Getreidezölle in ihrer jetzigen Abmessung würde bewiesen — was bislang ja wohl noch bezweifelt werden darf. In diesem Falle würden die Wähler in ihrer Wahlentscheidung nicht etwa die Verderblichkeit der Getreidezölle oder ihrer Höhe feststellen, sondern zugleich, was sie viel leicht gar nicht beabsichtigen, das Princip des Schutzes der nationalen Arbeit verwerfen. Ein unter der Devise: »Abschaffung der Getreidezölle« gewählter Reichstag würde sich jedenfalls nicht begnügen, diese zu votiren, sondern würde die sämmtlichen Sätze des Zolltarifs in seinem Sinne »revidiren«. Nun wird man zwar den verbündeten Regierungen das Zutrauen schenken dürfen — gewifs darf man es, so lange als Reichskanzler Fürst Bismarck an seinem Platze bleibt —, dafs sie solchen »Reform«-Bestrebungen Widerstand entgegensetzen und derartigen Beschlüssen des Reichstags die Zustimmung versagen würden. Damit würde dann einmal der Gonflict zwischen Parlament und Reichsregierung zu einer «orga nischen« Einrichtung des Reichs erhoben sein; aufserdem aber wäre für die Dauer einer frei händlerischen Reichstagsmehrheit jede noch so dringende und berechtigte Tarifmafsregel unmög lich gemacht, — und zwar nicht nur Erhöhungen, sondern auch Ermäfsigungen des Tarifs, weil in der durch den Gonflict gezeitigten Siedehitze die Reichstagsmehrheit bei jeder Gelegenheit ihr Princip wahren, also nicht die einzelne etwa als abänderungsbedürftig allseitig anerkannte Tarif position ändern, sondern den ganzen Tarif würde »reformiren« wollen. Man sieht, zu welchen Gonsequenzen es führen mufs, dafs der Reichstag die Mitentschei dung nicht nur betreffs der Principienfrage »Frei handel oder Schutz der nationalen Arbeit?« hat, sondern auch über die nach Entscheidung dieser Principienfrage eine reine Opportunitätsfrage bildenden Tarifpositionen beschliefst. Würde man die Wahldevise stellen: »Freihandel oder Schutzzoll?« so würde kaum bezweifelt zu werden brauchen, dafs eine sehr grofse Mehrheit der Wähler antwortet: »Schutzzoll«; das wissen die Freihändler recht gut, deshalb suchen sie die Wähler unter der von ihnen gewählten Devise: »Abschaffung einer Tarifposition —- der Ge treidezölle«, zu einer Entscheidung zu verleiten, die sie bei klarer Fragestellung nicht treffen würden. Hat man sich aber einmal für das Princip des Schutzes der nationalen Arbeit entschieden, wie ohne Zweifel die Mehrzahl der Wähler thun würde, so kann keinem Zweifel mehr unterliegen, dafs derjenige Zweig der nationalen Erwerbs- thätigkeit, welcher fast die Hälfte der Bevölkerung direct und einen viel gröfseren Bruchtheil direct und indirect beschäftigt, von der Wirksamkeit dieses Princips nicht ausgeschlossen werden kann. So lange also das Princip des Schutzes natio naler Arbeit für uns in Kraft steht, wird man Getreidezölle haben. Ein Zolltarif ohne solche würde ein noch gröfseres Loch in das Princip machen, als ein Zolltarif ohne Eisenzölle; — beide Löcher würden freilich die Freihändler schlimmstenfalls damit motiviren, dafs Alle Ge treide und Eisen consumiren. So richtig aber die Thatsache ist, dafs Alle ebensowohl Getreide wie Eisen consumiren, so folgt aus derselben doch nur im freihändlerischen Sinne die »Ver derblichkeit« der bezüglichen Tarifpositionen; wer es mit »guten Vernunftgründen« — um mit Herrn Bamberger zu reden — hält, wird seine Bedenken auf dieselbe Weise lösen, wie Herr von Schorlemer im Abgeordnetenhause den ihm vorgehaltenen Widerspruch seines anfänglichen Ein tretens gegen und späteren für Getreidezölle löste. Herr von Schorlemer, der ein ebenso ehr licher Agrarier wie allzeit bereiter Vertreter der industriellen Interessen seiner westfälischen Hei mat!) gewesen ist, erklärte nämlich auf die Vor haltung dieses Widerspruchs: „Es werden sehr viele ältere Landwirthe in derselben Lage gewesen sein wie ich, nämlich dafs wir nach dem da maligen Stand der Wissenschaft und Literatur uns in der Anschauung befanden, die freie Con- currenz wäre das wahre Glück und Heil für die Landwirthschaft, überhaupt für alle wirthschafl liehe Production. Ich würde auf diesem Stand punkte vielleicht noch länger verblieben sein, wenn sich nicht herausgestellt hätte, dafs die Lage der industriellen Arbeiter bei der Con- currenz des Auslandes eine so schlimme wurde,