Volltext Seite (XML)
276 Nr. 4. Arbeiter die Segnungen dieser Gesetzgebung mit Dankbarkeit anerkennt und allmählich einsehen lernt, dafs der deutsche Arbeiter nach dieser Richtung hin viel besser gestellt ist, als der Arbeiter irgend eines andern Staates. Auf der andern Seite bleibt es tief zu beklagen, dafs alle diese, zum Theil mit sehr schweren Opfern zu erringenden Leistungen der Industrie in Arbeiter kreisen nicht allein keine Anerkennung finden, sondern mit Mifstrauen und Undankbarkeit auf genommen werden. In dieser Beziehung kann weder ein Theil unserer Abgeordneten, welche in ihren Wahlreden mit immer neuen und gröfseren Versprechungen dem Wähler entgegenkommen zu müssen meinen, noch ein Theil unserer Tages presse von dem Vorwurf einer Mitschuld frei gesprochen werden; denn wenn der Arbeiter wiederholt hört und liest, wie wenig er eigent lich der socialpolitischen Gesetzgebung zu ver danken habe, so mufs allmählich auch seine berechtigte bessere Ueberzeugung ins Wanken gerathen. Durch ein derartiges Verfahren und durch das stete Bestreben, den Arbeitgeber als den geborenen Feind des Arbeiters hinzustellen, erzieht man — auch wenn man es nicht will — Socialdemokraten. Und leider ist ja die social demokratische Bewegung in unserm Vaterlande nicht in der Abnahme begriffen. Es ist dies um so mehr zu bedauern, als diese Bewegung in der Lage des deutschen Arbeiterstandes auch nicht den mindesten Schein der Berechtigung hat. Der Standard of life des deutschen Arbeiters hat sich nicht verschlechtert gegen frühere Zeiten, im Gegentheil, er ist besser ge worden. Die Löhne sind zum Theil nicht unbeträchtlich gestiegen, der Preis der Lebens mittel ist durchweg gefallen, die Gesetzgebung hat dafür gesorgt, dafs in Tagen der Krank heit oder bei Unfällen der Arbeiter nicht mittellos dasteht; die gemeinnützige Thätigkeit, wie sie sich im Bau von Arbeiterwohnhäusern, in der Errichtung von Volksküchen, Näh-, Flick- und Haushaltungsschulen für Mädchen des Ar beiterstandes, Feriencolonieen für skrophulöse Kinder und in vielen anderen Erscheinungen äufsert, hat noch nie zuvor so Grofses geleistet wie heute und damit demjenigen Arbeiter, der es überhaupt nothwendig hat, grofsartige Er leichterungen geschaffen. Wenn wir nun nichts destoweniger so viel Unzufriedenheit sehen, wie sie in den socialdemokratischen Massen zum Ausdruck kommt, so läfst das auf eine intensive Thätigkeit der Agitatoren schliefsen, welche die blinde Masse verführen. Dafs das Socialisten- gesetz diese Agitation ganz unterdrücken würde, hat gewifs kein Mensch geglaubt; dafs es aber ohne dieses Gesetz vielleicht noch viel schlimmer aussehen würde, daran zweifelt derjenige, welcher den Einflufs einer lärmenden Agitation auf die Arbeitermassen kennt, ebensowenig. Einer Ver- Äpril 1889. längerung des Socialistengesetzes ist darum in den Kreisen unserer Industrie mit aller Ent schiedenheit zugestimmt worden. Es kann auch unserer Ansicht nach ernsthaft keine Rede davon sein, das Socialistengesetz ein fach aufzuheben, ohne das gemeine Recht mit entsprechenden Verschärfungen zu versehen und auf diese Weise dem Anspruch der Gesellschaft auf Schutz ihrer Rechtsgüter Abbruch zu thun. Eine einfache Aufhebung des Socialistengesetzes mag ja vielleicht auf den Beifall bei Urtheils- losen zu rechnen haben, aber ihre Folgen wären zweifellos solche, dafs selbst ihre Urheber darob erschrecken würden; der naturnothwendige Rück schlag bliebe nicht aus. Die während eines Jahrzehnts unterdrückte socialistische Agitation würde alle Dämme und Schranken überfluthen, der lange angesammelte Hafs würde sich nun mündlich und schriftlich in einem Grade Luft machen, welcher für die Ruhe und Ordnung der Gesellschaft absolut unerträglich wäre und Aus schreitungen dieser und jener Art fast mit Noth wendigkeit bervorrufen müfste. Die Gesellschaft hat aber ein Recht darauf, von der Staatsgewalt einen genügenden Schutz ihrer Rechtsgüter zu verlangen, und dafs durch die Bestimmungen des Strafgesetzbuches in seiner gegenwärtigen Fassung ein solcher nicht gewährt wird, kann für die unbefangene Betrachtung einem Zweifel nicht unterliegen. * Es würde sich also vor Aufhebung des Socialistengesetzes darum handeln, sei es durch Abänderungen der im Strafgesetzbuch vor handenen, sei es durch Formulirung neuer Straf bestimmungen, diesem Schutzbedürfnisse Befrie digung angedeihen zu lassen. In betreff der Arbeitersc hüt z gesetz- gebung ist in unserm Generalversammlungs bericht vom Januar 1887 dargelegt, dafs die Gruppe den Anträgen der Gentrumspartei auf erweiterten Arbeiterschutz ablehnend gegenüber steht. Eine nähere Begründung dieses Stand punktes hat dann der »Centralverband deutscher Industrieller« in seiner an den Reichstag gerich teten Denkschrift gegeben. Letzterer hat in seiner Sitzung vom 17. Juni 1887 die Beschlüsse seiner Commission betr. Beschränkung der Sonntags arbeit und der Frauen- und Kinderarbeit in ab geschwächter Weise angenommen; der Bundes- rath verhielt sich jedoch zu diesen Beschlüssen ablehnend. Unter dem 26. November 1888 brachten die Abgeordneten Lieber und Hitze aufs neue bezüglich der Sonntags-, Frauen- und Kinderarbeit Anträge ein, über welche die erste Lesung im Januar 1889 stattfand. Auf die Montanindustrie beziehen sieh fol gende Bestimmungen: * Vergl. Dr. Ludwig Fuld, Die Aufhebung des Socialistengesetzes und die Aenderung des Straf gesetzbuches. Berlin, Siemenroth & Worms. „STHL UND ESEN.