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Beitrag zur Beurtheilung des Eisens bezüglich seines Kohlenstofgehaltes. Die in neuerer Zeit aufserordentlich zahlreich angestellten Festigkeitsuntersuchungen mit Eisen und Stahl haben unter anderem gezeigt, dafs das Material des Probekörpers durch solche Span nungszustände, bei denen es »fliefsen« mufs, seine mechanischen Eigenschaften ändert. Ver gleicht man zwei Probekörper miteinander, die aus gleichem Material in ganz gleicher Weise hergestellt sind, und zwar, indem man den einen im ursprünglichen Zustande beläfst, den andern aber vor der Vergleichung einem höheren Span nungszustande vorübergehend unterwirft, so dafs das Material um irgend einen Betrag hat fliefsen müssen, dann zeigt sich im Verlauf einer zum Vergleich angestellten Prüfung auf Zugwiderstand beim geflossenen Material höhere Elastizität, geringere Dehnbarkeit, gröfsere Härte und Bruch festigkeit, die letzteren beiden allerdings nur wenig gröfser. Um diese Veränderung zu erklären, ist es das Nächstliegende, einen rein physikalischen Vorgang anzunehmen und nur auf die Spannungszustände zurückzugehen.* Dies gelingt nicht bei allen Erscheinungen, die mit dem Fliefsen verbunden sind. Beispielsweise ist der bei den meisten Eisen- und Stahlsorten an der Fliefsgrenze (Beginn des Fliefsens) mehr oder weniger deutlich auf tretende Knick im Diagramm des Zerreifsversuchs nicht aus den Spannungsverhältnissen ableitbar. Es liegt deshalb der Gedanke nahe, dem Procefs des Fliefsens neben seiner physikalischen Seite noch eine rein chemische zu Grunde zu legen. Die Nothwendigkeit zu einer solchen Annahme gründet sich also zunächst darauf, dafs sich nicht alles beim Fliefsvorgang Beobachtete auf rein physikalischem Wege erklären läfst; aber es treten bei weiterer Ueberlegung noch einige Um stände hinzu, welche gleichzeitig diese Annahme stützen. Diese hier genannten Umstände sind rein chemischer Natur und bieten für das Ver- ständnifs der chemischen Umlagerung beim Fliefsen hinreichenden Anhalt; insbesondere führen sie zu einer eigenartigen Anschauungsweise über die Form des Kohlenstoffgehaltes im Eisen bezw. Stahl, welche auch für andere nicht ohne weiteres im Rahmen dieser Abhandlung liegende Gesichts punkte von Interesse sein dürfte. Zur Erklärung der beim Uebergang des Eisens aus dem flüssigen in den festen Zustand auf- * Man vergleiche: Mittheilungen aus den könig). Versuchsanst. in Berlin 1887, Heft 2: »Beitrag zum Studium des Fliefsens, insbesondere bei Eisen und Stahl«, von B. Kirsch. tretenden Erscheinungen nimmt man bekanntlich an, dafs das flüssige Eisen neben anderen Bei mengungen in der Hauptmasse freies Eisen und eine Lösung von Kohlenstoff in einer chemischen Verbindung von Eisen mit Kohlenstoff (Fe4C) sei, aus welcher einerseits der gelöste Kohlenstoff, wenn die Abkühlung langsam vor sich geht, auskrystallisirt, andererseits der chemisch ge bundene Kohlenstoff ganz oder theilweise frei wird und sich ebenfalls ausscheidet. Die Frage, weshalb nicht die ganze Menge des im Eisen enthaltenen Kohlenstoffs im flüssigen Eisen chemisch gebunden ist, kann nach obiger Annahme nicht beantwortet werden. Es müfste entweder kein freies Eisen oder kein freier Kohlenstoff vorhanden sein. Ferner aber steht die Thatsache vereinzelt da, dafs sich eine chemische Verbindung beim Erkalten zersetzt. Die Bestimmungen des procentischen Gehalts an Kohlenstoff basiren auf der Formel Fe«G + 8HCI = 4FeCl: + CH + 4H Diese Formel entspricht dem wirklichen Verlauf der Reaction aber keineswegs, und dafs die bisherige Erklärungsweise derselben nicht zu treffend ist, beweist die Thatsache, dafs die Methoden der Bestimmung des Kohlenstoffs so unregelmäfsige, sogar bei mehreren sorgfältigen Analysen desselben Stückes unter sich ungleiche Resultate ergeben, was nicht in Analysenfehlern seinen Grund hat. * Neben diesen Mängeln sind es nun noch folgende Gesichtspunkte, die auf Grund dieser Anschauungsweise überhaupt nicht erklärbar sind. Bei der mikroskopischen Untersuchung des Eisens machte A. Martens** eine Beobachtung, die er mit folgenden Worten beschreibt: „Es gewinnt das Aussehen, wie wenn das im Wachs thum begriffene Graphitblatt beim Erstarren den Kohlenstoff aus seiner chemischen Verbindung mit dem Eisen herausgerissen habe, die aufser- halb seines Anziehungsgebietes liegenden Theile unberührt lassend.“ Bei Gelegenheit der Untersuchung des Eisens beim Erwärmen in bezug auf seine Ausdehnung ist bemerkt worden, dafs dieselbe bis zu gewissem Wärmegrade gesetzmäfsig fortschreitet, sodann * Vergl. »Stahl und Eisen«, April 1887: Dr. A. Brand: Ueber Kohlenstoffbestimmungen mit Kupfer ammoniumchlorid, ferner Osmond und Werth, »Annales des mines«, Juli-August 1885. ** »Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing.« XXII 397.