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August 1888. STAHL UND EISEN.“ Nr. 8. 513 stattfindet. Die Folgen der körperlichen Anstrengung unter normalen Verhältnissen auf einen krankhaft disponirten Körper können nach Ansicht des Genossen schaftsvorstandes nicht als Betriebsunfall betrachtet werden, und auch wenn während der Arbeit schliefs- lieh der Austritt des Bruches erfolgt, so fehlt doch ein Moment, welches bisher allgemein als zur Be gründung eines Betriebsunfalls gehörig betrachtet worden ist (cf. v. Woedtke, Unfallversicherungsgesetz § 1, Anmerkung 17; Eger, Haftpflichtgesetz II. Auf lage, Seite 62, 113): dafs ein dem regelmäfsigen Gange des Betriebes fremdes, aber mit demselben in Verbindung stehendes abnormes Ereignifs vorliegen mufs. Wenn bei zwei Arbeitern die angeborene Anlage durch schwere Arbeit gleichmäfsig weiter entwickelt ist und bei dem einen der längst vorbereitete Austritt des (Bruches zufällig bei einer durch Husten- oder Lachanfall, bei dem zweiten bei einer durch die Arbeit bedingten Anstrengung der Bauchpresse erfolgt, so würde nach der Entscheidung des Reichsversiche rungsamts im zweiten Fall Betriebsunfall anzuerkennen sein; im ersten nicht. Diese Entscheidung, die einer seits zu Unbilligkeiten, andererseits zu Betrügereien führen kann, ist für die hiesige Genossenschaft um so mehr bedenklich, weil dieselbe in ihren Betrieben fast nur mit starker körperlicher Anstrengung ver bundene Arbeit hat. Eine ausführliche Motivirung ad 3 ist in der Gegenerklärung des Genossenschaftsvorstandes vom 23. April v. J. in Sachen M. gegeben, welche Ihnen auf Wunsch vom Sectionsvorstande, der s. Z. eine Abschrift derselben erhalten hat, zur Kenntnifsnahme zugeschickt werden kann. Bei der Wichtigkeit der ganzen Frage seien hier auch die Gutachten erster ärztlicher Autoritäten angeführt, welche in der allen Werken der Ge nossenschaft zur Verfügung gestellten Gegen erklärung für den Fall M. angezogen sind. Ueber Bruchschäden. (Auszüge aus chirurgisch-medicinischen Werken.) 1. Hüter: „Dafs die grofse Mehrzahl der Brüche „an bestimmten Stellen durch die Bauchwand ,tritt, ist durch anatomische Prädispositionen »bedingt. — Gelegenheitsursachen wirken bei »Bildung der Brüche mit; es kann die Anlage „eines Bruchsackes längst vorbereitet sein, ohne „dafs ein Bruch sich entwickelt, bis endlich eine »Gelegenheitsursache ein wirkt, und zwar ist die „wichtigste Gelegenheitsursache eine plötzliche „Vermehrung des intraabdominellen Druckes.“ 2. Bardeleben: „Sehr selten und wahrscheinlich „immer nur bei Individuen, welche zur Entwick- „lung eines Bruches entschieden prädisponirt „sind (d. h. einen präformirten Bruchsack haben), »entsteht, infolge einer übermäfsigen Anstrengung „oder gewaltigen Erschütterung des Unterleibes, »plötzlich ein Bruch mit einem dem Kranken „wahrnehmbaren, auch ziemlich schmerzhaften „Ruck. Die allmähliche Entstehungsweise der „Brüche ist die Regel .... nach neueren Unter- „Buchungen genügt aber nur für solche Brüche, „deren Bruchsack von Geburt an präformirt war „(deren Häufigkeit früher verschieden unterschätzt „worden ist), die Wirkung der Bauchpresse, um „die Eingeweide in diesen einzutreiben, keines- „wegs aber vermag sie einen Bruchsack durch „Ausstülpung zu bilden. Die Entwicklung eines „nicht congenitalen Bruchsackes erfolgt vielmehr „durch Hervorziehen des Bauchfells, meist unter „Bildung eines sogenannten Fettbruches u. s. w.“ VIII.8 3. Nach König „ist die plötzliche traumatische Entstehung eines Bruches undenkbar; wohl aber ist es denkbar, dafs in einen präformirten Bruch sack bei einer, zu plötzlicher Bruchmuskelcon- traction führenden Gewalteinwirkung Intestina gedrängt werden“. 4. Roser und Linhart fassen die Präformation des Bruchsackes als das „Primäre, das Eintreten von Bruchinhalt als das Secundäre, Nebensächliche“ auf. 5. Roser: „Die Bruchsäcke sind entweder Folge „von localer Erschlaffung der Fettgeschwulst „oder angeboren. — Die alte Ansicht, dafs „Bruchsäcke durch äufsere Gewalt plötzlich „hervorgetrieben werden könnten, glaube ich „völlig widerlegt zu haben, aus folgenden Gründen: 1. „Es findet bei den Brüchen beträchtliche „Verschiebung des Bauchfelles statt, die „durch den hydrostatischen Druck der Därme „(nach Experimenten) nicht erzeugt werden „kann. 2. „Die Patienten, welche einen Bruch „plötzlich bekommen zu haben glau- „ben, täuschen sich; siehatten einen „Bruchsack schon lange, erkannten „ihren Bruch aber erst bei starker „Anfüllung oder Anspannung des- „selben, im Momente einer Anstren- „gung der Bauchmuskeln.“ 3. „Die Schenkelbrüche entstehen durch Heraus- „zerrung des Bauchfelles, und die äufseren „Leistenbrüche sind fast immer angeboren, „sie beruhen in der Regel auf unvollkommener „Verschliefsung des Scheidenhautkanals.“ Das obige Rundschreiben des Genossen schaftsvorstandes ist in einigen Zeitungen in gehässigster Weise angegriffen worden, wogegen hier nur Folgendes erwidert sei: Entweder das Reichs - Versicherungsamt hat Recht, wenn es einen bei der gewöhnlichen Arbeit ohne beson deren äufseren Anlafs ausgetretenen Bruch als Betriebsunfall erklärt — dann liegt in der Auf forderung des Genossenschaftsvorstandes eine sehr vernünftige Unfallverhütungsmafsregel, welche jedenfalls ebenso gerechtfertigt ist wie die, dafs dem Schwindel ausgesetzte Arbeiter nicht auf hohen Gerüsten beschäftigt werden, und welche sich, da erfahrungsmäfsig der Austritt eines Bruchs durch körperliche Anstrengung gefördert wird, für alle Berufsgenossenschaften empfiehlt, soweit sie schwerere Arbeit haben, — oder der Genossenschaftsvorstand hat Recht, wenn er, gestützt auf die Auffassung des Reichsgerichts über den Begriff »Betriebsunfall«, auf die darüber von einem Regierungsvertreter abgegebene Er klärung und namentlich auf die Gutachten der ersten chirurgisch-medicinischen Autoritäten, einen solchen Bruch als die naturgemäfse Weiterent wicklung einer bereits vorhandenen Krankheits anlage betrachtet; dann liegt der Entscheidung des R.-V.-A. eine Verrückung der Grenzlinie zwischen Krankheit und Unfall zu Grunde, die, wie in einer Recursentscheidung (A. N. R. d. R.-V.-A. Nr. 216) ausgesprochen ist, nothwendig zu einer Schädigung der Arbeiter führen mufs; die Ver antwortlichkeit dafür trifft dann den, der jene Grenzlinie verrückt hat. 2