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Noch einige derartige Entscheidungen, und die Arbeitgeber werden sich fragen müssen, ob sie überhaupt noch irgend einen mit einem körperlichen Fehler behafteten Arbeiter beschäf tigen können. Wird die Consequenz jener Ent scheidung gezogen, so wird das U.-V.-G., das den Arbeitern zum Segen gereichen sollte, für Tausende derselben zum Fluche werden. Es sei jedoch hier gleich bemerkt, dafs das Reichs- Versicherungsamt selbst die bedenkliche Trag weite jener Entscheidung erkannt zu haben scheint; in einem späteren Falle (A. N. d. R.-V.-A. Nr. 463) wird die sehr wesentliche Einschränkung hinzu gefügt, es sei erforderlich, dafs die verschiedenen Gebrechen die Herabsetzung der Erwerbsfähigkeit in gegenseitigem Zusammenhänge beein flussen, wie z. B. der Fall sei, wenn ein Ein äugiger durch einen Betriebsunfall auch sein letztes Auge verliere. Ad 3. Es sei hier nur eine Kategorie von Fällen berührt, in denen Entscheidungen getroffen sind, welche mit Recht bei allen Berufsgenossen schaften grofses Aufsehen erregt haben: Das Reichsversicherungsamt hat erklärt (vgl. z. B. A. N. des R.-V.-A. Nr. 468), Bruchschäden, welche bei der gewöhnlichen Arbeit, also ohne dafs irgend ein dem Betrieb fremdes und ihn störendes Ereignifs ein getreten wäre, zum Austritt kommen, seien als Betriebsunfälle zu betrachten! Dabei unterscheiden sich diese Schäden in einem sehr wesentlichen Punkt von allen anderen körperlichen Fehlern und Gebrechen, welche durch Betriebsunfälle veranlafst werden können : eine innere Verletzung, der Verlust eines Fingers, Auges, Fufses u. s. w. ist bei jedem Menschen ausnahmslos möglich, es sei denn, dafs er schon Hand oder Auge verloren hat; dagegen steht es nach allgemeiner ärztlicher An schauung fest, wie z. B. neuerdings auf der officiellen Versammlung der Medicinalbeamten des Regierungsbezirks Düsseldorf vom 28. April er. einstimmig anerkannt worden ist, dafs der Austritt eines Bruchschadens nur bei einem kleinen Theil der Menschen — nach fran zösischen Schätzungen bei 5 % — überhaupt möglich ist, nämlich bei denen, welche vorher schon eine Bruchanlage haben, also den Keim der Krankheit in sich tragen. — Der Vorstand der Rh.-W. H.- u. W.-B. hat gegen die schwer wiegenden und bedenklichen Folgen der genannten Entscheidung des R.-V.-A., die seines Erachtens mit dem Sinne des U.-V.-G. nicht in Einklang zu bringen ist, sich einigermafsen durch die in dem folgenden Rundschreiben enthaltene Auf forderung zu schützen gesucht. Der Genossenschaftsvorstand hat in seiner Sitzung vorn 23. Februar er. einstimmig beschlossen , an sämmtliche zur Rheinisch-Westfälischen Hütten- und Walzwerks-Genossenschaft gehörigen Betriebe die Aufforderung zu richten: 1. Gewohnheitstrinker, auch wenn sie niemals bei der Arbeit betrunken betroffen worden, nament lich diejenigen Personen, welche an delirium tremens behandelt worden sind, thunlichst zu entlassen, sobald der Fehler bekannt wird; 2. an Epilepsie erkrankte Personen, sobald die Krankheit constatirt ist, thunlichst zu entlassen; 3. Personen, welche nach dem Ergebnifs der ärzt lichen Untersuchung einen Bruchschaden oder Bruchanlage haben, von der Annahme aus- zuschliefsen. Indem ich vorstehenden Beschlufs zu Ihrer Kenntnifs bringe, glaube ich , da allenthalben in der Genossenschaft gleichartige Erfahrungen gemacht worden sind, nur noch Folgendes hinzufügen zu sollen. Ad. 1. Nach ärztlichem Urtheil ist eine grofse Reihe von Betriebsunfällen auf Trunksucht zurückzu führen , auch wenn der Betreffende zur Zeit des Unfalls nicht getrunken hatte; denn der übertriebene Alkoholgenußs macht zu Schwindelanfällen und der gleichen geneigt, welche dann leicht zu Unfällen Anlafs geben; selbst Epilepsie ist nach den nament lich in der Berliner Charite gemachten Beobachtungen in sehr vielen Fällen auf Trunksucht zurückzuführen. Es kommt ferner in Betracht, dafs in zahlreichen Fällen leichte Verletzungen einen schlimmen, oft einen tödlichen Verlauf genommen haben, wenn die Betreffenden Trinker waren. — Wenn es auch in vielen Fällen schwierig sein mag, zu beurtheilen , ob Jemand Gewohnheitstrinker ist, so ist doch jedenfalls, das Auftreten von delirium tremens als bestimmtes Criterium zu betrachten und deshalb besonders erwähnt. Ad. 2. Es war bisher in vielen zur Genossen schaft gehörigen Werken Gebrauch, namentlich ältere Arbeiter, die epileptische Anfälle bekamen, in Arbeit zu behalten; selbstverständlich wurde ihnen dann eine Beschäftigung gegeben, bei welcher sie den Betriebsgefahren möglichst entrückt waren, jedoch ist es vollständig unmöglich zu verhüten, dafs sie in einem epileptischen Anfall auf irgend einen Gegen stand stofsen, der als zum Betrieb gehörig betrachtet werden kann. Nachdem das Reichsversicherungsamt dahin entschieden hat, dafs in einem solchen Fall Betriebsunfall vorliege, sobald durch das Hinfallen auf einen irgendwie mit dem Betriebe zusammen hängenden Gegenstand, z. B. rückständige Asche, eine Verletzung entstehe, erscheint die Beschäftigung von Epileptikern in den Betrieben der Genossenschaft unzulässig (ct. Recursentscheidung des Reichsver sicherungsamts Nr. 477). Ad. 3. Das Reichsversicherungsamt hat ent schieden , ein Bruchschaden sei als Betriebsunfall zu betrachten, sobald wahrscheinlich gemacht sei, dafs der Austritt des Bruches bei einer mit der Berufs arbeit verbundenen körperlichen Anstrengung, also ohne äufsere gewaltsame Veranlassung erfolgt ist. (cfr. Recursentscheidung des Reichsversicherungsamts Nr. 468). Diese Entscheidung ist nach Ansicht des Genossenschaftsvorstandes mit der bei Berathung des Unfallversicherungsgesetzes von einem Regierungs vertreter abgegebenen Erklärung über den Begriff »Unfall bei dem Betriebe« (cf. v. Woedtke, Unfallversicherungsgesetz § 1, Anmerkung 16) und mit der Erklärung medicinisch-chirurgischer Autoritäten über die Entstehung von Bruchschäden nicht im Einklang. Nach der letzteren ist der Austritt eines Bruchschadens nur die naturgemäfse Weiterentwick lung einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage; die Weiterentwicklung wird gefördert durch jede An strengung der Bauchpresse, wie solche beim Laufen, Springen, einem Hustenanfall, überhaupt bei jeder Körperanstrengung, also bei jeder schweren Arbeit