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Sdimerz und Seligkeit — ein Tanz des Le bens, in dem alles durcheinanderwirbelt und ladiend, jubelnd über sidi selbst em porsteigt: ein Bacchanten-Finale mit dem heimlichen Motto — „Wille zum Leben“. Die einzelnen Gedanken und die außer ordentlich übersichtliche Gliederung des Werkes erschließen sich ohne weiteres dem Verständnis des Hörers. Wunderbar die Kraft des Aufbaues in den ersten beiden Sätzen! Das weitgespannte Einleitungs- Andante mit dem zauberhaft-romantischen Hornthema setzt uns nach machtvoller Steigerung des ganzen Orchesters bald in den blühenden Allegro-Satz mit seinen Triolen-Gängen und seinem slawisch ge färbten Moll des Seitenthemas. Es ist ein phantasievolles Frühlingsgedicht, erlebt von einer Musikerseele, die „ihres Gottes voll" ist. — Das folgende seelenvolle A-Moll- Andante ruht auf rhythmisch einherschrei tenden Akkorden, um dann in Dur über gehend energischer vorwärtszutreiben und in einer besonders eigenartigen Coda in fast sehnsüchtiger Stimmung zu verklingen. — Das polternde, fast derbe Scherzo hat in seinem Trio ebenfalls einen von den Holz bläsern sanft-wehmütig angestimmten Ge sang als Gegensatz (Schubert liebt diese Kontraste besonders). Und „alle Schleusen überquellender Lebenslust“ löst dann das große ungehemmt dahinfließende Finale (allegro vivace): ein Fest, das die Natur sich selbst ausrichtet. All diese Schönheiten der Schubertschen großen C-Dur-Sinfonie werden immer um so beherrschender hervorleuchten, je mehr es ihrem Vermittler gelingt, seine Hörer gewisse architektonische Mängel des Werkes (diese können nicht übersehen werden) wirklich als jene „himmlischen Längen“ empfinden zu lassen, als die sie Robert Schumann einst liebevoll bezeichnet hat. Auch einige Fehltreffer in der Instrumenta tion gehören zu diesem Kapitel. Aber man muß bedenken: die Form, in der Schubert die kurz von seinem Tode erst vollendete Sinfonie hinterlassen hat, scheint nicht die letzt willige zu sein. Von der Fülle der Gesichte überwältigt, hat sie der todes wunde Meister in schnellster Zeit zu Papier ebracht, ohne sie nochmals überprüfen zu önnen. Wird diese Musik aber von einem Berufenen zelebriert, so merkt man diese irdischen Reste überhaupt nicht. DIE VOLLENDETE „UNVOLLENDETE" IN H*MOLL Fragment? — Torso? — — Es kommt vor, daß die Hand des Schöpfers früher von dem Werke sinkt, als es in seinem Sinne oder nach seinen Absichten vollendet war. Der Tod rief den Schaffenden ab, oder der Stoff war nicht zu bewältigen. Trotzdem ist das vom Künstler Unvollen dete für die Welt vollendet, da man es nicht nachschaffen kann. Schuberts Unvoll endete bleibt als „unvollendet“ vollendet — trotz des Preisausschreibens eines amerika nischen „Unternehmens behufs Ergänzung von Schuberts H-Moll-Sinfonie“! Ist diese Sinfonie übrigens überhaupt „unvollendet“ in technischem Sinne? — Weil man im Nachlaß Schuberts Skizzen eines dritten scherzoartigen Satzes gefun den hat, hielt man die H-Moll-Sinfonie mit ihren „nur zwei Sätzen“ für einen Torso. Das beweist natürlich gar nichts. Wenn Schubert seine Arbeit an der Sinfonie ab brach und sich anderen Arbeiten zuwandte, so hatte er sicher innere Gründe dafür. Vielleicht fühlte er, daß die Stimmungen, aus denen heraus die zwei ersten Sätze geboren waren, für ihn erschöpft waren, befürchtete, in einem Scherzosatz und Fi nale nicht mehr Gleichartiges und -wertiges geben zu können. Sich dazu zu zwingen, war Schubert viel zuviel Künstler. Er legte die Feder hin: Die „Unvollendete“ war für ihn vollendet — und für uns erst recht. Wenn heute eine amerikanische Phonographenkompagnie 10 000 Dollar aus setzt für ihre Vollendung! — Wer soll gegen einen Spleen ankämpfen? Auch diese beglückende Sinfonie, be reits 1822 entstanden, hat Schubert selbst nie gehört. Sie wurde überhaupt der großen Oeffentlichkeit erst 1865 bekannt. Bis dahin hatte sie der obengenannte Hüttenbrenner fast eifersüchtig der Mit- und Nachwelt vorenthalten. Heute ist sie unverlierbarer Schatz des deutschen Kon zertsaales. Der erste Satz (Allegro mode rato): ein zartes, romantisches Bild, unter brochen von harten Akzenten. Wundervoll blüht das berühmte, tröstliche Nebenthema der Celli in ganzer Innigkeit auf, immer wieder unterbrochen von wuchtigen Posau- nen-Akkorden, die den schließlich doch tragischen Verlauf dieses Satzes bestimmen. — „Himmlischen Balsam“ spendet dann das Andante in fast Beethovenschem Sinne. In der ganz wunderbaren Des-Dur-Episode sdiwebt die Oboe selig über den leise at menden Streichern. Das Ganze ein Ton satz von erstaunlichstem Reichtum, dem (nach Kretzschmar) „neben der vollen Naivität des Kindes aus dem Volke auch jene Größe der Empfindungen innewohnt, die Beethovens Teil war.“ SCHUBERT, DER LIEDERKOMPONIST Wo irgend in einem deutschen Hause ein Klavier steht, ist Schubert. Und wo irgend ein deutsdies Menschenkind singt, singt Schubert. Heute, 100 Jahre nach dem Tode des Sängers! Von der nächsten Waldecke her klingt’s vom „Wandern, das des Mül lers Lust“ ist. Die verliebten Jünglinge