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Gewehrs der Zukunft. Noch ist die Taktik nicht fertig mit dem Gewehr 88 und den Einflüssen des rauchlosen Pulvers. Bevor aber die dem Heereskörper imputirte Waffe nicht organisch mit demselben verwachsen ist, hat derselbe auch noch nicht die Widerstandskraft zu einem neuen chirurgischen Eingriff gewonnen, wie ihn jede Neu bewaffnung darstellt. Es hat auch wohl noch gute Weile, bis das Gewehr der Zukunft fertig ist. Wir wissen ja selbst nicht, ob die treibenden Ideen der Gegenwart bei künftigen Versuchen sich als stichhaltig und noch zeitgemäfs erweisen werden, oder ob sie in dem ewig fliefsenden Strom des Werdens und Vergehens untergehen, um neuen, besseren Platz zu machen! Einstweilen dürfen wir annehmen, dafs das Gewehr der Zukunft einen kleineren Seelendurch messer haben wird, als das heutige von 8 mm. Als man von 11 mm zu dieser Seelenweite herunterging, glaubte man hiermit die aus tech nischen Rücksichten zulässige unterste Grenze erreicht zu haben, und bezeichnete Gewehre dieser Art als solche des „kleinsten Kalibers“. Das war etwas voreilig, denn inzwischen ist es ge lungen, selbst Läufe von 5 mm Seelendurchmesser zu bohren und zu ziehen. Allerdings ist es einstweilen noch ein technisches Kunststück, in sofern das Verbiegen des Bohrers und der Zug stange für die bedeutende Lauflänge schwer zu vermeiden ist. Diese der Massenanfertigung ent gegenstehende Schwierigkeit wird indefs die Tech nik zu überwinden wissen, wenn das Verlangen an sie gestellt würde. Ob aus anderen Gründen die unterste Kalibergrenze für den Kriegsgebrauch damit erreicht oder überschritten ist, das müfsten Versuche feststellen. Es wird z. B. behauptet, dafs Geschosse so kleinen Durchmessers nicht imstande seien, Pferde sofort gefechtsunfähig zu machen. Aus ballistischen Gründen würde das kleinste Kaliber den Vorzug haben, weil von zwei gleich schweren Geschossen bei gleicher Fluggeschwindigkeit an der Mündung das Geschofs von kleinerem Durchmesser die gestrecktere Flug bahn ergiebt, weil es den geringeren Luftwider stand zu überwinden hat und deshalb in gleichen Zeiten gröfsere Strecken durchfliegt. Je bf streichender aber die Geschofsbahn ist, um so gröfser ist die Wahrscheinlichkeit des Treffens und die Zahl der Gelegenheitstreffer auf dem Schlachtfelde. Solch Geschofs setzt indefs eine gröfsere Belastung seines Querschnitts voraus. Nun aber lassen sich Geschosse so kleinen Durch messers mit einem Gasdruck, wie er zur Erzielung einer Mündungsgeschwindigkeit von 6- bjs 700 m erforderlich ist, nicht mehr aus Blei fertigen, weil dasselbe dafür bei weitem nicht hinreichende Formfestigkeit besitzt. Man war deshalb ge zwungen, dem Geschofs einen Mantel aus festerem Metall, welches sowohl eine Stauchung des Ge schosses im Lauf verhindert, als auch beim Hindurchgehen durch menschliche und Thier körper, selbst durch die stärksten Knochen, seine Form nicht verändert. Heute ist fast überall ein kappenartiger Stahlmantel im Gebrauch, der an der Spitze 1,5 bis 2 mm dick ist, am offenen Ende aber Papierstärke hat, welche eine genügende Ausdehnung zum Einpressen des Geschosses in die Züge zuläfst. Dieser Mantelform ist auch die grofse Durchschlagskraft der Geschosse durch Stahlplatten bester Qualität von 7 bis 8 mm Dicke und das tiefe Eindringen in Holz (das italienische 6,5-mm-Geschofs drang auf 12 m Schufsweite 69 cm tief in Rothbuchenholz, das des deutschen Gewehrs 88 erreichte 52 cm) zu verdanken. Der Stahlmantel ist mit Weich oder Hartblei gefüllt. Da derselbe aber in seiner Wandstärke bei kleinerem Kaliber garnicht oder nur unwesentlich dünner sein darf als bei gröfserem, so mufs bei dem geringeren spec. Gewicht des Stahls gegenüber dem Blei der Geschofskern bei kleinerem Kaliber verhältnifsmäfsig leichter werden. Um nun dem Geschofs demnach die gleiche Querschnittsbelastung zu geben, mufs es gröfsere Länge erhalten. Während bei 0,3 g a. d. qmm des Querschnitts das deutsche 8 mm-Geschofs 32 mm oder 4 Kaliber lang ist, hat das italienische 6,5-mm Geschofs 31,4 mm oder 5 Kaliber Länge; erst damit ist die gleiche Querschnittsbelastung erreicht worden. Bei weiterer Verringerung des Seelendurchmessers müfste die Geschofslänge noch mehr wachsen und würde das Geschofs sich damit in der That der Nadelform nähern und die allerdings übertriebene Bezeichnung „Nadel- geschofs“ rechtfertigen. Mit der Länge wächst die Schwierigkeit, dufch entsprechende Achsen drehung das Ueberschlagen des Geschosses im Fluge zu verhüten ; sie verlangt dazu einen steileren Drall. Während beim Gewehr 71 die Züge auf 55 cm einen Umgang machen, beträgt die Drall länge beim Gewehr 88 nur noch 24 cm und dürfte beim 6,5-mm-Gewehr auf 12 bis 15 cm heruntergehen. Das Geschofs M/71 macht 790, das 88 dagegen 2580 Umdrehungen in der ersten Secunde, wozu allerdings die von 435 auf 620 m gestiegene Anfangsgeschwindigkeit beiträgt. Um diese Verhältnisse günstiger zu gestalten, hat man sich nach einem schwereren, Metall für den Geschofskern umgesehen. Vom General Wille ist das Wolfram vorgeschlagen worden, desser spec. Gewicht 19,13 (Blei 11,3) beträgt. Das selbe würde in Pulverform in den Geschofsmantel einzupressen sein. Wenn es auch nicht unwahr scheinlich ist, dafs der heute sehr hohe Preis dieses Metalles bei gröfserer Nachfrage erheblich heruntergehen würde und die Preisfrage deshalb der Verwendung kein ernstliches Hindernifs böte, so ist sein gänzlicher Mangel an Elasticität doch einstweilen ein berechtigter Grund, den Nachweis der Zweckmäfsigkeit des Wolframs als Geschofs- kernmetall von eingehenden Versuchen zu ver-