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984 Nr. 22. „STAHLUNDEISEN.“ November 1892. Diese Verordnung, m. H., ist für neueintretende jugendliche Arbeiter seit dem 1. Juni 1892 in Kraft; für die bereits beschäftigten bleiben die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen bis zum 1. April 1894 in Geltung. Weshalb es der Herr Stellvertreter des Reichskanzlers unterlassen hat, diese gesetzliche Bestimmung (Art. 9 des Gesetzes vom 1. Juni 1892) bei Veröffentlichung der Ausführungsbestimmungen in Erinnerung zu bringen, ist schwerverständlich. Genug, es handelt sich für uns um die Frage, ob jene Ausführungsbestimmungen sich mit dem Betriebe vereinen lassen oder nicht. Und hierauf wird die Antwort für Jemanden, der nur eine leise Ahnung von der Art und Weise des Betriebes in Walz- und Hammerwerken hat, nicht schwer sein. Sie wird dahin lauten, dafs ohne Anstellung eines oder mehrerer besonderer Beamten jene Bestimmungen nicht durch führbar erscheinen. Dafs aber die industriellen Werke bei der ohnehin schon den Wettbewerb mit dem Auslande erschwerenden und in einzelnen Branchen bereits unmöglich machenden socialpolitischen Belastung keine Neigung zeigen werden, ihr Beamtenpersonal behufs Durchführung einer, wie wir weiter unten sehen werden, völlig überflüssigen und zwecklosen bureaukratischen Vorschrift noch zu vermehren, bedarf hier keiner näheren Begründung. Sollte man auch bei dieser Gelegenheit wieder die Industrie anklagen wollen, dafs sie der socialpolitischen Fürsorge des Staates principiell wider strebe, so ist darauf zu antworten, dafs diese Anklage durch nichts begründet ist, dafs die Industrie im Gegentheil schon lange, bevor der Staat daran dachte, auf socialpolitischem Gebiet thätig zu sein, dieses Gebiet durch umfassende Einrichtungen gepflegt und an der Gestaltung der socialpolitischen Gesetzgebung des Staates den hervorragendsten Antheil genommen hat, leider in den letzten Jahren mit dem negativen Erfolge, dafs man — sehr zum Schaden unseres Vaterlandes — auf ihre Stimmen nicht hören zu müssen — oder soll ich bei dem heutigen Bestreben, den Massen zu schmeicheln, sagen — nicht hören zu dürfen glaubte. Die Industrie wird aber vor wie nach das Recht für sich in Anspruch nehmen, unpraktische Mafsnahmen, welche in erster Linie den Arbeiter schädigen, zu bekämpfen, und wird das um so mehr thun, als sie sich nach dieser Richtung hin gerade den Arbeitern gegenüber einer Pflicht bewufst ist. (Lebhafte Zustimmung!) Was eine, durch die oben angeführten bundesräthlichen Ausführungsbestimmungen verlangte Tabelle zu bedeuten hat, ersehen Sie aus den nachfolgenden Aufzeichnungen, die ein grofses Eisen- und Stahlwerk für den Monat Mai auf meine Bitte hat anfertigen lassen (vergl. Seite 985 bis 987). Sie werden zugeben, dafs ein Meister oder Obermeister, der eine derartige Tabelle anzufertigen hat, von seinen sonstigen Obliegenheiten in einer Weise abgehalten war, dafs der Betrieb darunter in durchaus unzulässigem Mafse leiden mufs. So schreibt mir denn auch ein anderes Stahlwerk, auf welchem diese Notirungen ebenfalls vorgenommen wurden, dafs der Meister gar nicht mit den selben fertig geworden sein würde, wenn nicht der Betriebs-Chef und der Assistent die Functionen des Meisters zum grofsen Theil mit übernommen hätten. Hierzu kommen nun aber noch andere Schwierigkeiten. Meister und Arbeiter in Walz- und Hammerwerken pflegen ihre Uhren während der Arbeit nicht in der Tasche zu tragen, sie ver- schliefsen dieselben im Schranke. Jedes Walz- und Hammerwerk wäre also genöthigt, eine gröfsere Anzahl von Uhren anzuschaffen, die aber infolge des Staubes und Schmutzes bald nicht mehr richtig gehen würden, wie das auf einem Werk im Ruhrthai thatsächlich constatirt worden ist, wo die zu diesem Zweck angeschafften Uhren in den ersten 3 Wochen reparaturbedürftig wurden. Eine Genauigkeit in der Notirung ist also gar nicht zu erzielen. Da man nun aber mit der bekannten Denunciationslust einzelner Arbeiter überall zu rechnen hat — in Köln hat ja der Gewerbe-Inspector Jäger die Arbeiter durch das socialdemokratische Organ besonders eingeladen, am Sonntag Morgen in einer von ihm zu diesem Zwecke anberaumten Sprechstunde alle „gerechtfertigten Klagen“ abzulagern (Hört! hört! und Heiterkeit!) — so wird es den Meistern bezw. Werksleitern beim besten Willen nicht möglich sein, eine Berührung mit dem Strafrichter zu vermeiden. Von wie förderlichem Einflufs das dann wiederum bei der bekannten Art, wie der unserer Industrie feindliche Theil der Presse solche Gollisionen mit dem Strafrichter aufzubauschen pflegt, auf das gute Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sein wird, ist vorauszusehen. (Sehr richtig!) Kann man es, m. H., unter diesen Umständen den Arbeitgebern verdenken, wenn sie schon jetzt oder sicher nach dem 1. April 1894 jugendliche Arbeiter, mit denen sie wahrlich schon infolge der bisherigen Bestimmungen Scherereien genug halten, überhaupt nicht mehr beschäftigen wollen? Thatsache ist, dafs jugendliche Arbeiter in 99 von 100 Fällen lediglich aus Rücksicht und auf Bitten der Eltern angenommen werden, welche es und zwar mit Recht — als ein grofses Glück betrachten, wenn der aus der Schule entlassene Knabe sofort Arbeit findet, zumal auf demselben Werke, auf welchem sein Vater beschäftigt ist. Der einzige Vortheil, der für die Werke aus der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter erwächst — dafs man sie blutsaugerischer Weise ausnutzt, ist ein socialdemokratischer Unsinn, den ich zu widerlegen hier nicht für werth erachte, — der einzige Vortheil, sage ich, besteht in der Erziehung eines tüchtigen Arbeiterstammes — bezw. Nachwuchses, und wenn auch dieser Vortheil nicht unterschätzt werden soll, so sind doch mit ihnen ungebührliche Belästigungen und Weiterungen schon jetzt in Hülle und Fülle verbunden.