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Deutschland hat nun mit seiner ausgedehnten socialpolitischen Gesetzgebung insofern ein gefährliches Feld betreten, als es in anderen Ländern für eine ganze Reihe von Mafsnahmen gar kein Vorbild vorfand, wie denn auch diese Länder z. Z. noch sehr wenig geneigt scheinen, alle die Experimente nachzumachen, die wir auf diesem Gebiete angestellt haben und die wir vielfach der einmal übernommenen Verpflichtungen wegen niemals werden rückgängig machen können. Zudem darf bei allen diesen Dingen nicht vergessen werden, dafs in anderen Ländern die in Rede stehende Gesetzgebung vielfach nur auf dem Papier vorhanden ist, während bei uns ein einmal gegebenes Gesetz mit rücksichtsloser Strenge durchgeführt zu werden, ja seine Durchführung manchmal übertrieben zu werden pflegt, wofür s. Z. ein Ihnen allen bekannter Gewerberath geradezu klassische Beispiele geliefert hat. (Heiterkeit!) Dafs das in anderen Ländern anders ist, dafür kann leicht der Beweis erbracht werden. Was die vielfach aufgebauschte Arbeiterschutzgesetzgebung Frankreichs anbelangt, so steht dieselbe zum Theil lediglich auf dem Papier, ohne auch nur annähernd in dem strengen Mafse durchgeführt zu werden, wie bei uns in Deutschland. Auf meiner im Juli und August ds. Js. behufs Bereisung der französischen Kanäle, von Calais bis Lyon, unternommenen Fahrt sah ich zahlreiche Werke, die von preufsischen Gewerbe-Inspectoren infolge mangelhafter Schutzvorrichtungen sofort auf den Index der zu schliefsenden Fabrikanlagen gesetzt worden wären. Ich bemühte mich um den officiellen Bericht über die dortige Gewerbe-Inspection und ersah aus demselben, dafs in vielen Departements, wie das Gard, die Vogesen, Isere, Aisne und Somme, welche eine so zahlreiche, höchst schutz bedürftige Fabrikbevölkerung von Kindern, Frauen und Mädchen besitzen, überhaupt noch kein Inspector zur Durchführung der Schutzgesetze angestellt ist. Noch schlimmer sind die Verhältnisse in dem industriereichen Lyon. Das Rhönedepartement war eins der ersten in Frankreich gewesen, welches einen Fabrikinspector angestellt hatte, aber seit 1888 ist der Posten gestrichen. Im ganzen hatten von 87 französischen Departements bis 1891 erst 22 einen Betrag für Fabrikaufsicht aus geworfen, darunter das Seinedepartement 144 550 Fres., die anderen 21 zusammen den verschwindend geringen Gesammtbetrag von 52 300 Fres. Die Ausgabe des Staates für den nämlichen Zweck beträgt 176 000 Fres. Beide Beträge zusammengenommen machen noch nicht 1 Centime pro Kopf der Bevölkerung aus. Ein mir zugänglich gemachter amtlicher Bericht über die Thätigkeit der französischen Fabrikinspectoren während des Jahres 1890 beschwert sich denn auch auf das bitterste über die mangelhafte Durchführung des Gesetzes, und man sieht, dafs es in Frankreich für den vielgerühmten obersten Arbeitsrath (conseil superieur du travail) und das Arbeitsamt (office du travail) noch sehr viel zu thun giebt, ehe man cs dort in Bezug auf den Arbeiterschutz nur halb so weit gebracht haben wird, wie bei uns in Deutschland. Und nun die vielgerühmte Schweiz! Der Geheime Regierungsrath und vortragende Rath im königl. preufs. Ministerium für Handel und Gewerbe, Hr. Dr. Königs, den als warmherzigsten Befür worter der deutschen Socialreform keiner von Ihnen in dem Verdacht haben wird, dafs er irgend etwas Hervorragendes, was andere Länder auf diesem Gebiete besitzen, verschweigen würde, hat die Fabrikgesetzgebung der Schweiz zu seinem besonderen Studium an Ort und Stelle gemacht und ihre Durchführung in einem sehr lesenswerthen Buche (Berlin 1891, Julius Springer) besprochen. Da finden sich denn nun aufserordentlich bemerkenswerthe Geständnisse. So heifst es auf Seite 14 ff. wörtlich: „Zwangsbefugnisse stehen dem Bundesrathe gegen die Cantonsregierungen nur in genau begrenzten Fällen zu, im übrigen kann er nur durch gütliche Ermahnungen oder den Druck der öffentlichen Meinung wirken. Die Schweiz ist ferner das Land der Selbstverwaltung. Ein berufsmäfsiger Beamtenstand fehlt fast gänzlich. Alle Beamten werden auf kurze Zeit direct oder indirect vom Volke gewählt, die Verwaltungsbeamten, einschlieslich der Lehrer und Geistlichen, meist auf drei Jahre, die richterlichen Beamten meist auf sechs Jahre. Wenn auch die Wiederwahl, namentlich bei den technischen Beamten, die thatsächliche Regel bildet, so ist doch die Voraussetzung, dafs der Betreffende nicht in irgend einer Weise die Unzufriedenheit des souveränen Volkes oder seiner Vertretung erregt hat. Naturgemäfs übt diese Abhängigkeit von der Wiederwahl ihre Rückwirkung auf die Beamten aus und auf die Art der Handhabung ihrer Amtsthätigkeit. Die öffentliche Meinung, die Stimmung der Mehrheit der Wähler, ist unbewufst oder bewufst von grofsem Einflufs auf die Auffassung der Beamten. Veraltete Gesetze oder solche, die nicht der herrschenden Parteirichtung entsprechen, werden höchst mangel haft oder gar nicht ausgeführt. Die neuen und nicht mifsliebigen Gesetze werden im Geiste der herrschenden Strömung ausgelegt. Es liegt im Wesen und in der Absicht der demokratischen Verfassungen der Schweiz, dafs der Volkswille nicht nur beim Erlafs der Gesetze, sondern auch bei deren Auslegung und Handhabung mafsgebend ist; und zwar der zeitige Volkswille. Auch die Gerichte unterliegen diesem Einflufs, da auch die Richter gewählt sind. Ein fester Stand von Juristen und berufsmäfsigen Verwaltungsbeamten ist somit nicht vorhanden. Daher kommt es, dafs die Auslegung der Gesetze eine äufserst freie, oft nach unserer