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922 Nr. 20. STAHL UND EISEN.“ October 1892. breitere Vertheilung solider Kenntnisse; jedoch mufs durch besondere Einrichtungen noch dafür gesorgt werden, dafs bei uns die tüchtigsten Kräfte zu einer höheren individuellen Entwicklung gelangen können. Wenn auch im ferneren Berufs leben allen Beamten eine gleiche Fürsorge zu gewendet werden soll, einerlei ob sie sich wissen schaftlich auszeichnen oder nicht, dann würde den Einzelnen so wenig Fürsorge treffen, dafs sich ein hervorragendes Wissen und ein weit schauender Ueberblick in keiner Person zu bilden vermöchte. Dem Staat wird es alsdann an intelli genten, sachkundigen Oberbeamten fehlen. Es ist aus benannten Gründen erforderlich, dafs der Staat jüngeren Beamten, welche sich ausgezeichnet haben, Gelegenheit giebt, auch wissenschaftlich thätig zu sein, und dafs derselbe zur Förderung der Ingenieur-Wissen schaft eine besondere wissens chaft- licheAbtheilunggründet, die, dem Ministerium für öffentliche Arbeiten unterstellt, auch prak tischen Aufgaben dient. Von den Sorgen laufender Verwaltungsgeschäfte enthoben, könnten sich hier die jeweils hinzugezogenen praktischen Ingenieure, wie Theoretiker und auch Professoren der Hoch schulen der Lösung wichtiger wissenschaftlicher Tagesfragen hingeben. Die Anstalt müfste zu dem Zweck befugt sein, günstig belegene und durch ihre Sonderart ausgezeichnete Nutzbauten unter Aufwendung gröfserer wissenschaftlicher Mittel zu betreiben, als dies aus Sparsamkeits rücksichten am gewöhnlichen Nutzbau zulässig erscheint. Heute liegen die Verhältnisse so, dafs bei- uns in neuen Dingen das erforderliche empirische Wissen häufig überall nicht gewonnen werden kann. Wo immer heute eine neue Aufgabe an den Bau-Ingenieur herantritt, welche in einem Punkt keinen Wiederholungsfall bietet, sondern zu selbständigen Studien herausfordert, fehlen dem jüngeren Ingenieur die Mittel, eine hin reichende praktische Unterlage zu schaffen, ältere Herren sind aber nicht geneigt, sich mit wissen schaftlichen Untersuchungen abzugeben; ihre Zeit ist meistens anderweitig voll in Anspruch ge nommen. Aufserdem sagt die einzelne Verwaltungs stelle, warum sollen denn wir gerade es sein, welche die Kosten tragen und die Zeit hergeben, wie diese bei Lösung einer schwebenden technischen Tagesfrage von weitgehender Bedeutung zu opfern sind. Aus diesen Gründen kommen methodische Untersuchungen so selten im Bau-Ingenieurwesen zustande. Ein einzelnes Privatunternehmen, z. B. eine gröfsere Farbstoff-Fabrik, giebt für wissen schaftliche Forschung in ihrem beschränkten Wirkungskreis jährlich weit mehr Geld aus, als alle Verwaltungen Deutschlands im Bau-Ingenieur wesen zusammengenommen der methodischen Forschung zur Verfügung stellen. Wofern hier kein Wandel geschafft wird, mufs das Ingenieur- j wesen an gründlichem empirischen Wissen ver armen. Es gebricht uns an einer Central- steile für wissenschaftliche empirische Forschung im Bau-Ingenieurwesen. Nur in kleinen Dingen werden dem bei Nutzbauten beschäftigten Beamten die Zeit und Geldmittel zur Verfügung gestellt, uni hinsichtlich neuer Baumittel oder Bauweisen das praktische Wissen durch Ausführung methodischer Versuche zu ergänzen. Als ich z. B. bei den Hamburger Zollanschi ufs- bauten beschäftigt und unter Anderem auch mit Revision der Stand- und Brandsicherheit der Speicherbauten beauftragt war, hob ich hervor, dafs noch niemals in so grofsem Mafsstab das Eisen für Speicherbauten verwendet sei, wie jetzt geschehen solle, und dafs daher in diesem Punkt unsere praktische Erfahrung im Bau-Ingenieur wesen als nicht ausreichend zu erachten sei. Man könne nicht Jahre hindurch warten, bis von anderer Seite bezügliche Untersuchungen ange stellt würden, sondern müsse sofort praktische Versuche über das Verhalten von gedrückten, Eisenstützen im Feuer ausführen. Die Direction der Lagerhausgesellschaft, zumal die kaufmännischen Leiter gewährten sofort die benöthigten Mittel in Höhe von 5000 6. Dennoch gelangte aber das Vorhaben nicht zur Ausführung, weil die staatliche Verwaltung befürchtete, dafs durch derartige wissenschaftliche Versuche eine Verzögerung der Vollendung dieser Bauten herbeigeführt werden könne. Die später von Herrn Eisengiefserei- besitzer Lühmann und mir ausgeführten und in den „Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbfleifses “ veröffentlichten Versuche und Versuchsergebnisse konnten durchaus keinen Ersatz für jenen früher entstandenen Ausfall der erheb lich umfassender geplanten Untersuchungen bieten. Die inzwischen stattgehabten Speicherbrände, durch welche ein Verlust von mehreren Millionen Mark eingetreten ist, haben die berührte Frage wieder auf die Tagesordnung gesetzt, aber dennoch hat man sich bis heute noch nicht entschliefsen können, durch methodische Untersuchungen in der Sache Klarheit zu schaffen. Die Einziehung gutachtlicher Aeufserungen ist zwar erfolgt, es mufs aber diese Methode als durchaus einseitig und unzureichend in einer Sache erachtet werden, über welche, da sie neu ist, sich überhaupt noch keine zutreffenden Ansichten gebildet haben. Die mit hinreichenden Mitteln von einigen in Theorie und Praxis tüchtigen Kräften mitFleifs und Sorgfalt ausgeführten selbständigen Untersuchungen sind allein ausschlaggebend. Ein zweites Mal trat mir die Bedeutung recht zeitig auszuführender Versuche, bezw. von Versuchs bauten vor Augen, als mir als erstem Hülfsarbeiter der Grofsh. Badischen Oberdirection für Wasser- und Strafsenbau der Auftrag ertheilt worden war, eine kleine Arbeit über die Schiffbarmachung des