EINFÜHRUNG 1823 wurde die „große heroisch-romantische Oper Euryanthe“ op. 81 von Carl Maria von Weber in Wien uraufgeführt. Von diesem Werk, das Webers schon begründeten Ruf vertiefen half, hört man im Konzertsaal die Ouvertüre ziemlich häufig. Mit Recht! Weber hat sich in diesem Werke um eine Tonsprache und um eine Aussage bemüht, die an der Sprache seines großen Zeit genossen Beethoven geschult ist. Die Ouvertüre ist klar und übersichtlich in der Sonatenform auf gebaut. Nach einleitenden, markanten Takten mit sehr iebendigen Triolen in den Streichern wird von dem gesamten Bläserchor das erste Thema hingestellt, dem als Gegensatz nur das von den Streichern getragene zweite Thema in seiner lyrischen Haltung gegenübersteht. Aus diesem Kontrast entwickelt Weber mit großer handwerklicher Kunst einen immer spannenden Durchführungsteil, in dem die Triolen des Anfanges und ein aus dem ersten Thema entwickelter punktierter Rhythmus eine wichtige Rolle für den Aufbau des Werkes spielen. Eine sehr zarte Episode von gedämpften Streichern schiebt sich ein — um darauf einer stürmischen Entwicklung und einem feurigen Ablauf zu einem glanzvollen Schluß hin freie Bahn zu lassen. Strawinsky nannte Weber einen großen Fürsten im Reiche der Musik. Wahrscheinlich geht sein treffendes Urteil auf das Erlebnis zurück, das er beim Hören der Euryanthe-Ouvertüre hatte. Johannes Brahms schrieb sein Konzert für Violine und Orchester, op. 77, im Sommer des Jahres 1878 in Pörtschach. Wie sich in die 2. Sinfonie die beglückenden Erlebnisse in jener schönen Natur hineingefunden haben, so ist auch im Violinkonzert zu spüren, welchen belebenden und erquickenden Einfluß die Landschaft am Wörther See auf ihn ausübte. Brahms hat dieses Konzert seinem Jugendfreunde Joseph Joachim gewidmet, der es auch zuerst lange Jahre als einziger gespielt hat. Heute ist das Konzert Gemeingut aller Geiger geworden, die zur Spitzen klasse gehören wollen — und die Schwierigkeiten, die einst nur Joachim meisterte, werden heute von vielen Virtuosen bewältigt. Joachim hat Brahms manche Anregungen und Ratschläge in Hin sicht auf violintechnische Fragen gegeben —• aber aus jeder Note heraus ist zu spüren, daß das Werk ein echter Brahms ist. Das Konzert ist dreisätzig, obwohl Brahms, entgegen allen Gepflogenheiten, zuerst vier Sätze konzipiert hatte. Im ersten Satz ist die große sinfonische Exposition, die Aufstellung der beiden Themen und des gesamten übrigen Materials zu bewundern, ehe er die Solovioline einsetzt. Und nun läßt er nicht wörtlich die Themen von der Geige wiederholen, sondern verändert sie sofort und gestaltet sie frei um. Ein Beweis dafür, daß Brahms doch nicht der strenge Formalist war, als den man ihn so gern hinzustellen beliebt. In wunderbarem Wechselspiel mit dem Orchester ordnet sich in diesem Satze die Violine ins sinfonische Geschehen ein. Der zweite Satz mit seinem schönen Oboenthema am Beginn entfaltet sich zu ernster Schönheit und zu milder Verklärung, während der Schlußsatz mit rassigem Temperament daherkommt und den Schuß ungarischen Wesens klar erkennen läßt. Das Terzenthema am Anfang dieses Finales beschwört unzweideutig zigeunerische Weisen, die dem Werk einen beschwingten, lebensfrohen Abschluß verleihen. Tschaikowskis 6. Sinfonie, seine letzte, nennt er selbst die „Pathetische". Er ist echter Romantiker in diesem Werk, in welchem er mit großem Pathos, also mit einem gewissen Überschwang, seine ihn schmerzlich bewegenden Gefühle zum Ausdruck bringt. Die Sinfonie, ist Darstellung seines Innenlebens, sie ist reiner Individualismus, sie ist ichbetont. Sie ist ein Bekenntnis seiner glühenden Seele, das aber vom damaligen Adels- und Bürgerpublikum in Petersburg zur Ur aufführung ziemlich gleichgültig und uninteressiert aufgenommen wurde (1893). Es war das Publikum, an das sich Tschaikowski im zaristischen Rußland allein wenden konnte, denn der Arbeiter und der Bauer waren in der damaligen gesellschaftlichen Situation von diesen künstlerischen Ereignissen ausgeschlossen. Das Neuartige an diesem Werke ist die Anordnung der Sätze, indem nämlich Tschaikowski es wagt, das Adagio, den langsamen Satz, von seinem üblichen Standort als zweiten oder dritten Satz wegzunehmen und ans Ende zu setzen. Anscheinend ist ihm diese Kühnheit von dem konservativen Publikum seiner Zeit verübelt worden. Die dadurch entstandene Problematik war jenem genußsüchtigen Publikum des Jahrhundertendes schon zuviel. Tschaikowski hält sich in Hinsicht auf die Form der einzelnen Sätze ziemlich streng an das klassische Schema; allerdings ist der Inhalt ausgesprochen romantisch. Das Gefühl überwiegt, eins leidgesättigte Seele schreit, ihre Qual in die Welt hinaus. Die Musik ist im letzten Sinne pessimistisch, woran auch die Ausbrüche von Trotz und Drohung nichts ändern. Erschütternd ist der Schluß, ein Lamento, ein Klagegesang eines Vereinsamten. Das Werk ist eigentlich eine Anklage gegen die damalige gesellschaftliche Situation. Man vergißt leider sehr leicht diesen Ausgangspunkt, man sieht in ihm, allerdings mit Recht, ein Gipfelwerk der russischen Romantik, losgelöst vom gesellschaftlichen Hintergrund. Johannes Paul Thilman