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532 Nr. 7. STAHL UND EISEN. Juli 1891. versagt, und die Regierung hat den Paragraphen leider geopfert. Sehliefslich geben wir über die neuen Be stimmungen der Gewerbeordnung im Vergleich mit dem früheren Gesetz und unter gleichzeitiger Anführung der Beschlüsse der internationalen Arbeiterschutzconferenz auf Seite 534 ff. eine tabel larische Uebersicht. Auch zum Kranken-Versicherungs- gesetz vom 15. Juni 1883 ist eine Novelle an den Reichstag gelangt, welche eine Reihe von Abänderungen, gröfstentheils technische Verbesse rungen, Beseitigung von Unklarheiten und Zweifeln, Ergänzungen der Organisation, eine anderweite Regelung der Zuständigkeit bei der Schlichtung von Streitigkeiten u. dgl. enthält und vor Allem eine Erweiterung des Kreises der Versicherten einschliefst. In dieser Novelle sind, wie wir s. Z. in einer Zusammenstellung unserer Zeitschrift »Stahl und Eisen« nachgewiesen haben, eine ganze Reihe der von uns in der Commission, welche s. Z. in Verbindung mit dem »Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirthschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen« eingesetzt wurde, gemachten Abänderungsvorschläge acceptirt wor den. Der Reichstag verwies die Novelle nach der am 6. December 1890 stattgehabten I. Lesung an eine Commission, welche leider eine Reihe von Aenderungen vornahm, die wir nicht als Verbesserungen ansehen können. Bezüglich der facultativen Aufhebung der Garenzzeit, wofür die Novelle das Einverständnifs der Mehrheit der Vertreter der Arbeitgeber, welche die Mitglieder der betreffenden Kasse beschäftigen, als noth wendige Voraussetzung bezeichnete, beschlofs die Commission, dafs diese Leistungserweiterung schon eintreten könne, wenn der Reservefonds auf die gesetzliche Höhe gebracht sei. Letzteres wird binnen kurzer Zeit bei den meisten Kranken kassen der Fall sein, und dann würden es, wenn die Commissionsvorschläge acceptirt werden, die Arbeiter in der Hand haben, die Leistungserweite rungen ohne weiteres eintreten zu lassen. Dem gegenüber haben wir bereits in »Stahl und Eisen« daran erinnert, dafs den Arbeitgebern nicht zu grofse Lasten mit der Arbeiterversicherung auf gebürdet werden dürfen, was ohne Zweifel ein treten würde, wenn man die Leistungserweiterung der Kassen in die Hände der Arbeiter allein legte. Ferner halte die Regierungsvorlage festgesetzt, dafs beim Ausscheiden aus der Kasse infolge ein getretener Erwerbslosigkeit diejenigen Versicherten alle Ansprüche verlieren sollten, welche die Arbeit unter Contractbruch verlassen hätten. Die Reichs tags-Commission hat diesen durchaus berechtigten Vorschlag der verbündeten Regierungen gestrichen und damit bedauerlicherweise das Princip ver lassen, dafs Rechtsbrüchigen eine Rechtswohlthat zuzuwenden ein Unding ist. Wir können nur wünschen, dafs die Regierungsvorlage in den genannten Punkten seitens des Plenums wieder hergestellt werde. Was die Unfallversicherungsgesetz gebung anbelangt, so darf die Thatsache nicht übersehen werden, dafs im Jahre 1887 nicht weniger als 8485 entschädigte Unfälle, d. h. 53% der Gesammtzahl auf die Schuld der Betheiligten zurückzuführen sind und „bei strengster Pflicht erfüllung aller Betheiligten hätten vermieden werden können“. Ohne Zweifel ist dies zum gröfsten Theil auf die Neigung der Arbeiter zu rückzuführen, die Gefahr, an die sie sich gewöhnt, zu unterschätzen und sich über Schutzmafsregeln und Vorschriften hinwegzusetzen. Befördert wird diese Neigung durch die Bestimmung des § 5, Abs. 7 im Unfallgesetz, nach welchem nur die vorsätzliche Herbeiführung des Unfalls von der Berechtigung zur Entschädigung ausschliefst. Der Arbeiter kann also durch frevelhaften Leichtsinn das gröfste Unglück herbeiführen, das Leben seiner Mitarbeiter vernichten und den Besitzer um sein Eigenthum bringen: entschädigt wird er doch. Dafs solche Bestimmungen zur Nicht beachtung der Schutzmafsregeln, ja sogar, wie es in zahlreichen Fällen vorkommt, zur Be seitigung der Schutzvorrichtungen durch die Arbeiter führen, liegt auf der Hand, und eine Aenderung dieses weitgehenden Paragraphen dürfte vielleicht im Laufe der Zeit sich als nothwendig erweisen. Die Invaliditäts- und A11 er s vers iche- rung haben wir im Princip von vornherein be fürwortet und uns zu positiver Mitarbeit bereit erklärt. Um so mehr müssen wir es bedauern, dafs das folgenschwere Gesetz in einer sehr complicirten Form mit stürmischer Eile unter Dach und Fach gebracht worden ist. Dafs es mit nur 20 Stimmen Majorität angenommen wurde, ist schon an und für sich ein Beweis dafür, dafs es in seiner jetzigen Gestalt wenig Anklang ge funden hat. Die Industrie hatte den Weg be zeichnet, auf welchem eine einfachere Gestaltung dieser gesetzlichen Materie möglich war; man hat aber ihre Vorschläge nicht berücksichtigen zu sollen geglaubt und sich namentlich der Er richtung einer Reichsversicherungsanstalt abgeneigt gezeigt, durch die eine unendliche Vereinfachung herbeigeführt sein würde. Die Durchführung des Gesetzes erfordert heute einen schwerfälligen und kostspieligen Beamtenapparat, der sich noch be deutend vermehren wird, wenn die Zahl der Rentenempfänger wächst; sie stellt an die Mit wirkung der Arbeitgeber grofse Anforderungen und verursacht meist durch die Notbwendigkeit der Anstellung besonderer Kräfte nicht unbe deutende Kosten, welche bei der regierungsseitigen Aufstellung der Versicherungskosten natürlich nicht in die Erscheinung treten. Mit doppelter Bitterkeit mufs es deshalb die Industrie empfinden, wenn sie, obwohl von ihr in erster Linie die grofsen