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STAHL UND EISEN. August 1891. Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche t y mit denen er afs und trank, wohnte, verbrachte und an Sonntagen sich Wir zweifeln keinen Augenblick an liehen Willen des Verfassers, sich die Abende vergnügte, dem red- auf diese g st 0 o g e o n d n .s e d Ein Candidat der Theologie, Herr Paul Göhre, hat vor kurzem ein Buch* veröffent licht, in welchem er seine Erlebnisse und Er fahrungen aus der Zeit mittheilt, die er drei Monate lang als Fabrikarbeiter und Handwerks bursche im Umgänge mit Arbeitern verlebte, mit denen er unerkannt in der Fabrik thätig war, * Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerks bursche. Eine praktische Studie von Paul Göhre, Candidaten der Theologie, Generalsecretär des evangelisch-socialen Congresses in Berlin. Leipzig, Grunow. 2 •J. Nr. 8. 651 Weise einen Einblick in das Leben und Treiben der Arbeiter zu verschaffen, mit eigenen Ohren zu hören und mit eigenen Augen zu sehen, wie es unter den Arbeitern steht, und die Wahrheit über die Gesinnung der arbeitenden Klassen, ihre materiellen Wünsche, ihren geistigen, sittlichen und religiösen Charakter nach Kräften zu er forschen. Wir geben auch gerne zu, dafs ein gewisses Mafs lobenswerther Energie zu der Durchführung des Entschlusses gehört, drei Monate lang ungewohnte körperliche Arbeit zu thun und fast ganz auf den Umgang mit Standes- genossen zu verzichten. Dennoch vermögen wir nicht zu verstehen, dafs das Erscheinen des Göhreschen Buches zu einem Ereignisse von höchster Tragweite aufgebauscht worden ist und dafs man nun erst Kenntnifs bekommen zu haben glaubt von dem, was die arbeitende Klasse denkt, fühlt, glaubt und will. Positiv Neues für einen mit den Verhältnissen der industriellen Arbeiter bekannten Menschen bietet das Göhresche Buch auf keiner Seite, und die Zahl derer, welche mit den genannten Verhältnissen bekannt sind, ist denn doch nicht so klein, als diejenige Presse anzunehmen scheint, welche das Göhresche Buch als ein neues Evangelium der Offenbarung an zupreisen sich beeilt hat. Man übersieht in diesen Kreisen, dafs jeder in der Industrie praktisch thätige Ingenieur, Fa brikleiter u. s. w. nicht drei Monate, sondern ein ganzes Jahr lang praktisch zu arbeiten gezwungen ist, wie denn auch die Staatseisenbahntechniker in der Werkstatt, auf der Locomotive u. s. w. den praktischen Dienst erlernen, die Bergreferen dare in der Grube thätig gewesen sein müssen, ohne in dieser Stellung irgend einen Vorzug vor dem gewöhnlichsten Arbeiter zu geniefsen. Alle diese Leute haben hinreichend Gelegenheit, ebendas selbe von den Arbeitern zu hören, was Herr Candidat Göhre von ihnen erfahren hat; denn es ist ein grofser Irrthum, wenn man annehmen wollte, unsere Arbeiter scheuten sich, in Gegen wart eines solchen »Volontärs« ihre Ansicht zu äufsern; im Gegentheil, man nimmt auf die letzteren nicht die geringste Rücksicht, was Jeder, der nach dieser Richtung hin thätig war, gewifs bestätigen wird. Was dann ferner Herr Candidat Göhre über die Lebe- und Wohnverhältnisse der Fabrikarbeiter sagt, das weifs bei uns nicht allein jeder Fabricant und jeder an der Leitung eines gröfseren oder kleineren Unternehmens Betheiligter, sondern das wissen eine ganze Menge im praktischen Leben thätiger Männer, die z. B. das Ehrenamt eines Armenvorstehers, eines Waisenrathes u. s. w. bekleiden. Alle diese Leute werden denn auch das Göhresche Buch ohne Zweifel sehr enttäuscht aus der Hand legen, und für eine neue Offen barung werden die Göhreschen Ausführungen nur von denen gehalten werden, die sich bisher überhaupt gar nicht um das Leben und Treiben unserer Arbeiter bekümmert haben. Müssen wir somit auf der einen Seite das genannte Buch für eine zwar herzlich gut ge meinte, aber nichtsdestoweniger keineswegs be deutsame Erscheinung unserer socialpolitischen Literatur ansehen, so können wir auf der andern Seite nicht verschweigen, dafs dasselbe ein zum Theil nicht unbedenkliches Unternehmen darstellt, da es in Arbeiterkreisen das Mifsvergnügen zu vermehren und Ansprüche zu zeitigen geeignet ist, die niemals in Erfüllung gehen können. Gewifs hat dem Herrn Candidaten Göhre die Absicht fern gelegen, solches Mifsvergnügen zu erzeugen, aber seine Beurtheilung der körperlichen Arbeit als solcher baut sich auf einer unzutref fenden Grundlage auf, weil er die Sache durch seine Brille angesehen und Manches für schlimm erachtet hat, was in der That für den an die körperliche Arbeit wirklich Gewöhnten keineswegs schlimm ist. So beklagt er auf S. 73 ff. die lange Dauer der Arbeit, — 11 Stunden, Montags und Sams tags 10 Stunden — die „ für alle körperlich schwer und strapaziös war. Die Leute waren, mit Ausnahme der Jugend, alle des Abends am Schlüsse der Arbeit mehr oder weniger müde und abgespannt: ihr Gang war nicht mehr so leicht, schnell und elastisch, wie des Morgens und Mittags, ihre Stimmung nicht mehr so heiter und lebhaft, ihre Arbeitsleistung in der letzten Stunde deutlich geringer als in der ersten“. Um diese phänomenale Wahrnehmung machen zu können, hätte der Verfasser durchaus nicht in ■W Eiahäidkmaddm