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VI. Der deutsch-franz. Krieg u. das neue deutsche Reich. 957 ms einem kanonenartigcn Rohr auf einmal gegen den Feind zu schleudern ver mag, sollte ihre vernichtende Kraft erproben. Noch war ja Deutschland nicht geeinigt, geheime Agenten und journalistische Correspondcntcn wußten viel zu melden von der Antipathie der Demokraten, der Ultramontanen, der Particula- nsten, der Malcontcnten aller Orten und Enden gegen das eroberungssüchtige gcwaltthätige Preuße», gegen den verschlingenden Militarismus, wußten die Macht und Bedeutung der national-liberalen Partei in der öffentlichen Meinung als höchst geringfügig darzustellen. In der „Revue des deur Mondes" hatte ja Victor Cherbuliez überzeugend nachgewicsen, daß die neugeschaffcnc Ordnung in Deutschland ohne Dauer und Halt sei, daß bei dem ersten kräftigen Stoß alle Territorialgewalten wieder auflebcn, alle Zwangsbündnisse sich wieder lösen würden. In München war das liberale Ministerium Hohenlohe den Angriffen ciner aus Ultramontancn, Demokraten und Particularisten gebildeten specisisch bayrischen Partei erlegen und diese, welche sich als „patriotische" bezeichnete, be saß die Majorität in der Kammer; in Hessen und Würtemberg waren Männer im Rathe der Krone (Dalwigk und Varnbüler), die mit ihren prcußcnfeindlichen Gesinnungen bei jeder Gelegenheit offen hcrvortraten; in Hannover und andern annectirten Staaten gab sich in manchen Kreisen eine particularistische Zähigkeit und Verbissenheit kund, die an Fanatismus grenzte. Da und dort konnte nian hoffen, zerrissene Fäden wieder anzuknüpfen, verblaßte Erinnerungen wieder auf zufrischen, alte Sympathien wieder zu beleben. Der neue Minister des Aus wärtigen, Herzog von Gramont, hatte während seines mehrjährigen Aufent halts als französischer Gesandter in Wien die deutschen Zustände und Stimmungen durch die trübe Atmosphäre der aristokratisch-klerikalen Hofkreise der Kaiscrburg ungeschaut und sich ein Abbild geschaffen, das der Wirklichkeit wenig entsprach. 3n Oesterreich hatte man die Niederlage vom I. 1866 noch nicht verschmerzt; die Czechen, Polen und Ungarn, die mehr und mehr Boden im Staatslcben ge wannen, sympathisirten aste mit Frankreich, in diesem Gefühle mit dem Hofe übereinstimmend; der freundschaftliche Besuch, den um dieselbe Zeit der Zar von Rußland dem König Wilhelm in Ems abstattete, hatte in Wien uud bei den Böhmen Neid und Mißtrauen erregt. Der Wiener Reichskanzler, Graf Beust, stellte dem französischen Minister einen Kriegsbund Oesterreichs mit Frankreich in sichere Aussicht. So vereinigte sich Vieles, um in den Tuilcrien die Uebcrzcugung Hernorzurufen, daß der Moment gekommen sei, wo der verschobene Waffengang mit Erfolg unternommen, die heiß ersehnte „Rache für Sadowa" gestillt werden könnte. Man hatte ja auch noch für Waterloo mit Preußen abzurechnen. Bei längerer Verzögerung erstarkte der norddeutsche Bund mehr und mehr; die natür liche Anziehungskraft eines großen Staatswesens mußte dann ihre Wirkung auch ans die noch selbständigen kleineren Staaten Deutschlands üben und die Fugen schließen, in welche inan jetzt noch die trennenden und thcilenden Hebel einer intriganten Staatskunst einsetzen konnte, die erprobten Mittel einer verführerischen