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I. Weltlage. Socialismus. Religion und Kirche. 77 Christcuthums (Arinen- und Krankenpflege, Diakonisienhäuscr, Rettungsanstal- tcu verwahrloster Kinder u. dgl.), innere und äußere Missionen wirkten an regend auch auf Viele, denen seine sonstige Einseitigkeit, Engherzigkeit und Ver- folguugssncht mißfielen und füllten das kirchliche Leben mit reichern und liefern Interessen. In Deutschland sah unsere Zcitperiode neben der Union anch beson dere Vereine entstehen, welche den Zweck hatten, das Bewußtsein der Einheit und Zusammengehörigkeit in den verschiedenen Landeskirchen zu weckcu und zu stärken. Bei dem regen Interesse des deutschen Volkes für Religion und Kirche fand der in Sachsen entstandene, durch einen Aufruf aus Darmstadt verbreitete Gedanke einer Gründung des Gustav-Adolf-Vereins „zur Aufrechterhal tung evangelischer Gemeinden, welche in katholischer Umgebung der Mittel zum kirchlichen Leben entbehren", also in Gefahr allmählicher Verkümmerungund Auflösung stehen, großen Anklang. Seit der Versammlung zu Frankfurt, wo die Statuten entworfen, ein Centralvorstand (in Leipzig) angeordnet und perio disch wiederkehrende Hauptversammlungen von Abgeordneten des in viele Zweig- vereinc gegliederten Bundes festgesetzt wurden, wuchs der Verein zu einer volks- thümlichen Macht empor, als bedeutungsvoller Gegensatz zu dem aristokratischen Dombau-Vcrein zu Köln. Von der bairischen Regierung geächtet, von Preußen nur nach einigem Bedenken unterstützt, gewann der Verein desto größere Bedeu- lung durch die masscuhaftc Bethciligung des Volks, das an seiner freisinnigen Haltung Gefallen fand und darin „ein heiliges neutrales Gebiet für alle Par teien in der evangelischen Kirche" erkannte, „die sich hier wieder zum erstenmal als eine einzige Macht darstcllc". Diese Ansicht erfuhr eine große Erschütterung, als auf der Berliner Generalversammlung der Abgeordnete des Königsberger Vereins, Rupp, znrückgewiesen wurde und der Grundsatz Geltung fand, daßis4«. nur die Landeskirchen in ihrer Gesammtheit mit Ausschluß der Seelen die in den Frankfurter Statuten bezeichnete evangelische Kirche bildeten. Ein lauter Schrei des Unwillens ging durch das protestantische Deutschland, ein Sturm von Protestationen erhob sich gegen diesen Beschluß, der den „freien Bund der Liebe zu einem Glaubensgericht" umgestaltcte, ein lebhafter Schriftenwechsel und Zeitungskampf hielt alle Glieder in Aufregung. Die drohende Spaltung wurde jedoch durch den freiwilligen Rücktritt Rupp's und durch die versöhnenden Be schlüsse der nächsten Versammlung in Darmstadt vermieden. Seither war der Verein in stetigem Wachsthum begriffen und zählt dermalen in Oesterreich, wo er am erfolgreichsten wirkte, den vierzehnten Theil der evangelischen Bevölkerung zu Mitgliedern. Weit unpopulärer als diese freie Vereinigung evangelischer Christen war die seit 1852 bestehende halbosfiziclle Eisenacher Kirchcncon- se renz, auf welcher meist Mecklenburger und Hannoveraner dominirtcn. Waren hier nur die Kirchcnrcgicrungen vertreten, so beabsichtigte dafür der seit 1848 bestehende, auf freier Bereinigung Gleichgesinnter beruhende, „Evangelische Kirchentag" von vornherein nichts Geringeres als das Kirchcnregimcut im