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74 .4. Zwischen zwei Revolutionen. Zu gleicher Zeit erhielt, gestützt auf die politische Rcaction, die kirchliche Richtung so entschieden das Uebcrgcwicht, daß selbst der Fortbestand der Union in Frage gestellt und durch eine, den Wühlereien der „lutherischen Prvvinzialvcreinc" Rechnung tragende, Cabinctsordre vom 6. März 1852 im Obcrkirchenrath selbst eine lutherische und eine reformirte Fraction geschaffen wurden, was dann wieder auf Seite der Unionsfreunde eine Bewegung hcrvorrief, zu deren Beschwichtigung eine neue Cabinctsordre vom t2. Juli 1853 erschien. Da nun aber hierdurch die den Confcssioncn kurz zuvor gemachten Zugeständnisse wieder zurückgcnommcn zu sein schienen, so versammelte sich im September 1853 eine Confcrcnz lutherischer Geistlichen in Wittenberg und reichte eine Vorstellung bei Hofe ein. Abermals äußerte sich nun der König schmerzlich bewegt, daß man seinen guten Willen, die Sonderbekcnntniffe zu schützen, mißkennc. Damit waren die Geschicke der preußischen Landeskirche vollends in jene byzantinischen Geleise gerathen, die sic seither nicht wieder verlassen haben. Zunächst zwar wußte Niemand, woran man eigentlich sei, und die Verwirrung wurde erst recht groß, als Stahl in iss«, seinem Buch über „die lutherische Kirche und die Union" das lutherische Bekenntnis als die absolute Wahrheit, die reformirte Confcssion als eine Art von Antichristen thum, jede Union als etwas an sich Unmögliches darzustellen sich erlaubte. Deutlicher als in diesem Buche kann es nicht gesagt werden, daß in der lutherischen Kirche ein gleiches hierarchisches Prinzip waltet, wie in der katholischen. Was hat die Gemeinde, was haben Staat und Obrigkeit noch zu bedeuten, wenn in allen Fragen des Kirchcn- regimentcs die höchste und einzige Entscheidung in den Händen des Lehramts ruht, wenn cs allein ordinircn, absolvircn, cxcommunicircn und regieren kann und soll? Dieser Zug erst vollendet den Charakter des neuen Lutherthums: es muh ein Priesterthum geben, welches vermittelnd zwischen Gott und der gemeinen Menschheit steht, weil es sonst kein göttlich geordnetes Kirchenregiment gäbe, und es muß ein wunderbares und gegenwärtiges Glaubensmysterium, wie das Abendmahl der lutherischen Kirche ist, geben, weil ja sonst kein specifischer Vorzug der lutherischen Kirche vor der reformirten wäre. Daß die letztere eine solche Art von Heilsvermittelung, wie der Lutheraner sie in seinem Sacrament anbctct, leugne, das beruhe eben auf dem verderblichen Glau ben, als sei Gottes Hcilswirkung nicht an geordnete Mittel und Werkzeuge gebunden, und dieser Glaube selbst beruhe wieder auf dem philosophischen Gedanken von der Alleinwirksamkeit Gottes, also auf einer Erfindung der menschlichen Vernunft. Daher jene Abwehr alles Gchcimnißvollen, alles Glaubens an göttliche Kräfte in endlichen Ursachen, daher auch jenes abstrakte und demokratische Kirchcnrcgimcnt, jener republi kanische Trotz gegen alle irdische Majestät und Herrlichkeit, das Prinzip der Volkssou- vcränetät u. dgl. Dies war das Bild der reformirten Consession, welches ein mit dem höchsten Vertrauen des Königs beehrtes Mitglied der obersten Kirchcnbehörde der angeblich immer noch unirten Kirche Preußens entwerfen konnte. Damit war man freilich bei einem Extrem angekommcn, welches nicht auf die Dauer Vorhalten konnte. Weder entsprach das Bekenntniß, welches Stahl im Namen der herrschenden „kleinen aber mächtigen Partei" ablcgte, den Traditionen der Hohen- zollern'schen Dynastie überhaupt, noch, da cS alle Gewalt in die Hände des Klerus legte, speciell dem Ideal eines persönlich durch den König geübten Regimentes, wie cs schon dem vorigen Könige vorgeschwcbt hatte. Friedrich Wilhelm IV. hatte sich zwar niemals einer ganz bestimmten theologischen Partei völlig hingegeben; er war eine zu geistreich bewegliche Natur, als daß nicht jede kirchliche Coteric, welche auf ihn zählen zu dürfen glaubte, von Zeit zu Zeit auch wieder Enttäuschungen zu erfahren gehabt hätte. Bei jeder Gelegenheit aber trat er nicht blos der flachen,.unkirchlichen und aus lösenden Richtung unmißverständlich schroff entgegen, sondern auch den wissenschaftlich