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I. Die Wcstmächtc und Rußland. 709 Throne zu reden und ihre Wünsche und Bedürfnisse darzulcgen vermöchten. Nach einigen Tagen veröffentlichte der Statthalter eine kaiserliche Zuschrift, worin zivac getadelt war, daß einige Individuen sich berufen glaubten, alle Schritte der Negierung zu verdammen, und mit Entschiedenheit erklärt wurde, daß der Kaiser in keinem Falle thatsächliche Unordnungen gestatten werde, zugleich aber auf die Reformen hingewiesen ward, denen er seine ganze Zeit widme. Weder über die Beschaffenheit dieser Reformen, noch über den Zeitpunkt der Ausführung war eine Andeutung zu finden. Aber schon am 26. März erschien ein Ukas, worin den Polen die Errichtung einer besonderen selbständigen Scction für Cultus und Unterricht bei der Regierung in Warschau unter der Leitung des polnischen Markgrafen Alexander Wiclopolski, eines geachteten Patrioten, der im Jahre l831 als Gesandter der revolutionären polnischen Regierung in London gewesen, sich nachher aber der russischen Regierung genähert hatte, so wie die Einsetzung eines polnischen Staatsraths und die Organisation von wählbaren Gemeinde-, Kreis- und Gubcrnialräthen zugcstandcn wurde. Es war der Anfang einer staatlichen Neubildung auf nationaler Grundlage. Dies erkannte auch der Fürst- Statthalter, indem er in einer Proclamation die Einwohner als „Polen" anre dete, von der ihm so thcucrn „Nationalität" sprach, sic aber zugleich vor den schlim men Menschen warnte, von denen die bisherigen Unordnungen ausgcgangcn seien. Wielopolski war durch die Gräfin Bludow, eine in panslavistischen Zukunfts- träumen sich wiegende vornehme Dame, für die Idee einer Verbrüderung aller slavischcn Völkerzweige gegenüber der teutonischen Race gewonnen worden. Aber die dargebotenc Gabe genügte den gesteigerten Ansprüchen nicht mehr, Die Herstellung der alten polnischen Republik in ihrem ganzen Umfang und mit voller nationaler Selbständigkeit war das Ziel der Patrioten. Jeden Abend maß-kg-,». fanden an der Stelle, wo die Februaropfer gefallen waren, Versammlungen statt, wobei die Nationalhymne gesungen und andere Demonstrationen vorge- nominen wurden. Die Regierung suchte durch verschärfte Polizeivcrordnungcn, durch Entlassung der Bürgerwehr und durch andere Maßregeln dem halbrevo lutionären Zustande ein Ende zu machen. Als sie damit nicht zum Ziele kam, erklärte sie den landwirthschaftlichen Verein, den sie nicht ohne Grund als die Seele der ganzen Agitation ansah, für aufgelöst. Dies hatte zur Folge, daß die Aufregung noch einmal mit größter Heftigkeit aufbrauste. Nachdem am Morgen das Volk in Masse zu dem Grabe der im Februar gefallenen Märtyrer gewallfahrt, bewegte sich ein langer Zug, mit Zweigen und Kränzen vom Kirch-r. AM. Hof geschmückt, vor das Gebäude des landwirthschaftlichen Vereins, wo das bekannte Nationallied: „Noch ist Polen nicht verloren!" angestimmt und auf dem reichverzierten Balkon der polnische weiße Adler auf schwarzem Grund schnell enthüllt ward. Die Leitung des Ganzen schien von einigen Herren auszugehen, die auf dem von Damen gefüllten Balkon standen. Hierauf begab sich die immer mehr anwachsende Volksmenge vor die Wohnung des Grafen Zamoyski, des