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I. Die Weslmächte und Rußland. 705 nahmen, wird für ewige Zeiten in, Gedächtniß des russischen Volkes eingeprägt bleiben. Zum ersten Mal tönte von den Stufen des Thrones eine Kunde bis in die letzte Bauernhütte, eine Kunde, freudig und verheißungsvoll, wie sie der Leibeigene kaum laut auszusprcchen wagte, höchstens in seinen melancholischen Volksweisen andeutete. Eine That, wie cs die Bauerncmancipation ist, würde allein hinrcichen, einem Monarchen ewigen Ruhm zu erwerben. Welche Energie, welche Festigkeit, welche Sorgen und bittere Erfahrungen gehörten dazu, um cine Reform zu verwirklichen, welche die Existenzbedingungen des größten Bruch- theils der Bevölkerung des Reiches erschütterten, veränderten und ganz neue, von dem einen Theil schnlichst erwünschte, von dem anderen mächtigeren Theil nur ungern entgegeugcnommeue Verhältnisse schuf! Was Kaiser Alexander II. seinem Volke versprochen, das wurde im Zeitraum nur weniger Jahre in hohem Maaße gewährt. Die Abschaffung der Körperstrafe, die Justizreform, die neue Städteordnung, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Verbesserung des Unterrichtswesens, Errichtung neuer Universitäten, Hebung des Verkehrs und Handels haben dem gesummten inneren Leben ein neues Gepräge aufgcdrückt und den Grund zu einer Entwickelung gelegt, deren Rückgang durch nichts mehr bewirkt werden kann. Nicht mehr ein Theil, sondern die gesummte Bevölkerung, vom Ersten bis zum Letzten, genießt die Früchte der letzten fünfundzwanzig Jahre, das Gefühl der Freiheit durchglüht die Herzen Aller, die Liebe zum Vaterlande entfachend und nährend." Es ist eine alte Erfahrung, daß der Haß und die Leidenschaft, die sich unter einer drückenden Zwingherrschaft in den Gemüthern einer Nation sammeln, erst dann zum Aufruhr cmporschlagen, wenn mildere Zustände eintreten, wenn die Hand zur Versöhnung ausgestreckt wird, wenn der redliche Wille sich kund gibt, alte Wunden zu schließen und nach Kräften zu heilen. Diese Erfahrung sollte sich aufs Neue bei dem Volke bewähren, dem im Drama der Weltgeschichte die tragischste Rolle zugcfallen ist. Die polnische Nation ist ein verstümmelter Kör per, der in gewaltigen Zuckungen den rasenden Schmerz kund gibt und das Ver langen der Natur nach Wiedervereinigung der abgestoßenen Gliedmaßen, in dem noch die Fülle der Lebenskraft vorhanden ist und doch der zum freien Handeln «forderliche Organismus fehlt. Wie ein verwundeter Gladiator rafft sie von Jeit zu Zeit ihre Kräfte zusammen, um sich den zermalmenden Armen des Sie hrs zu entwinden ; aber alle Anstrengungen dienen nur dazu, den Todcskampf schmerzhafter zu machen und die noch gesunden Theile der Erstarrung cntgcgcn- Mühren. Seit den Tagen der Theiluug hat Polen die Sympathien der euro päischen Menschheit wie nie ein anderes Volk besessen; man sah es als eine heilige Pflicht an, das große Nationalunglück durch Beweise von Liebe und Theil- »ohme zu mildern und der Ungerechtigkeit der Mächtigen das Mitleid der Völker gcgenüberzustcllen. Diese Sympathie verleugnete sich auch nicht in solchen Fällen, wo vernarbte Wunden wieder aufgerissen wurden, um neue bedenkliche Hcilungs- Wrbü, Wkttgrschichtk. XV. 45