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I. Weltlage. Socialismus. Religion und Kirche. 55 Natur bestehenden Einhcitsverhältnisse, kraft dessen diese die „Wirklichkeit" jener, jene die „Wahrheit" dieser sein sollte, ganz unbefangen auf die geschichtliche Person Jesu überzugehen, in welcher jene philosophisch construirte Einheit selbst verständlich vorlicge. Statt besten behandelte Strauß in meisterhafter und blen dender Darstellung säimntliche Bilder, welche die evangelische Geschichte aufrollt, als allmählich entstandene, den alttestamentlichcn Inhalt im neuen Testamente wiederholende, Schöpfungen der ihren Herrn und Meister verehrenden und ver herrlichenden Gemeinde. Nachdem so die Wahrheit der evangelischen Erzäh lungen von Jesu Leben und Lehre, Leiden und Auserstehcn aufgelöst und als letzter, aus dem Nebel der „Mythen" hcrvortrctcnder, Rest von Geschichtlichkeit der religiöse Genius Christi und des Christenthums ans Licht getreten war, erhob sich auf theologischem und kirchlichem Gebiete eine Bewegung von längst nicht mehr dagewesener Lebhaftigkeit und Bedeutung, und die Reactionspartci wußte geschickt den Zustand der Verblüffung, in welchen angesichts der gewal tigen Aufregung der Gemüthcr die Regierungen geriethcn, zu benutzen, nm nach und nach fast überall ihre Parteigänger in den Sattel zu heben und auf die ge- sammte biblische Kritik und Geschichtswissenschaft den Verdacht grundstürzender Tendenzen und ticfgewurzelter Gottesfcindschafl zu wälzen. Da gleichzeitig der von dieser Wendung zunächst betroffene Verfasser des so großes Acrgcrniß berei tenden Buches nicht blos zum Rang eines viclbewunderten Schriftstellers der Nation emporgestiegen war, sondern in dieser seiner moralischen Machtstellung auch keine Gelegenheit versäumte, die Theologie als ein unehrliches Gewerbe zu behandeln, dessen Fortdauer sich nur aus dem Bestehen von Pfründevermögen, aus den Bedürfnissen des gemeinen Volkes und aus den egoistischen Spekula tionen der Staatsregierungen erklären lasse, so ward die theoretische und die praktische Stellung der Theologie seither eine oft mindestens sehr schwierige, und die geistlichen Handlanger der Rcaction, welche sich in so großer Zahl in dem Stande finden ließen, der eben erst zu Schleiermacher s Zeiten in ehrenvollstem Ansehen gestanden hatte, trugen das Ihrige dazu bei, diesen Stand in einen Mißcredit zu bringen, welcher in schreiendem Mißverhältnisse zu seiner thatsäch- lichen Bedeutung für das Volksleben steht. Zu demselben traurigen Resultate gedieh auch der Prozeß auf dem reli- gions-philosophischen und dogmatischen Gebiet. Auch hier griff Strauß ein, indem er zwanzig Jahre nach Schleiermachcr's Glaubenslehre ein gleiches Werk veröffentlichte, worin die christliche Dogmatik als ein innerer Bildnngs- und Zerstörungsprozeß, als ein rcsultatloses Entstehen und Vergehen erscheint, auf der einen Seite also die Elemente des philosophischen oder religiösen Zeitbewußt- feins, welche ihren Niederschlag im Dogma gefunden haben, auf der anderen aber auch alle Anzeichen der Rückbildung, die versteckten Widersprüche, die allmäliche Zernagung aller festen Fäden des Dogmas durch den Zweifel mit erschreckender Klarheit vorgesührt werden.