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I. Die Westmächte und Rußland. 693 tischcn Bevölkerung auf Alleinberechtigung in der Leitung der öffentlichen Dinge machten alle Bcrsöhnungs - und Ausglcichungsvcrsuche dcS christlichen Abendlandes zu Nichte, alle Versprechungen der türkischen Regierung illusorisch. Der Widerwille der Moham medaner, die Gleichberechtigung der Rajah anzucrkcnncn, führte stets zu neuen Con- flictm, welche die Intervention des Auslandes nöthig machten. In Syrien erhob sichkmien. der alttürkischc Fanatismus zu gräuclvollcn Christcnverfolgungcn. Die Mißhandlungen derMaroniten, einer Christensckte im Norden des Libanon, durch die Drusen, einen dem Islam angehörenden kriegerischen Volksstamm auf der Südseite dieses Ge birges, nahmen einen so gräßlichen Charakter an, daß, da die Pforte weder den Willen noch die Kraft besaß mit Nachdruck dem Unwesen zu steuern, Kaiser Napoleon sich zu >8«». einer bewaffneten Intervention veranlaßt sah. Der General Hautpoul-Bcaufort zog in DamaScus ein, setzte den türkischen Pascha in den Stand und in die Nothwcndigkcit, über die Urheber der Mordgräucl Strafgerichte zu verhängen und ermöglichte cs der Re gierung in Constantinopcl, einige Acnderungen in der Verwaltung dcS Libanonlandcs vorzunchmen, wodurch der Wiederkehr ähnlicher Sccnen vorgcbeugt werden sollte. Bei dieser Gelegenheit trug Abd-el-Kadcr, der damals in Damascus lebte, dem französischen Kaiser den Dank für die frühere Freilassung ab, indem er sich der syrischen Christen heldmmüthig annahm. Dafür wurde ihm das Großkrcuz der Ehrenlegion verliehen. Nur dem energischen Widerstande Englands war es zuzuschrcibcn, daß sich die franzö sische Intervention in Syrien nicht, wie in Rom, zu einer dauernden Occupation ge staltete. Jin Juni kehrten die französischen Truppen zurück. Bald darauf starb der is«i. Sulian Abdul-Medschid, der, obwohl voll guten Willens und der Civilisation des2«.Ium. Westens zugethan, seine Kraft in den Genüßen des Harems verschwendet hatte. Sein Bruder und Nachfolger Abdul-Azis ist nach kurzem Anlauf zur Beseitigung mancher Uebelstände bald wieder der herkömmlichen Schlaffheit, dem Regiment der Günstlinge und der Verschleuderung der Finanzen verfallen. Doch kam man in Constantinopcl '»ehr und mehr zu der Ueberzeugung, daß der türkische Staat nur durch Reformen im Geiste des Abendlandes und durch Annäherung an die europäische Cultur vom gänz lichen Verfalle gerettet werden könne. Diese Ansicht erhielt ihre bedeutendsten Ver treter in dem großen Staatsmann Fuad Pascha, der sich durch eifriges Studium europäische Bildung angeeignet hatte, und in seinem langjährigen Freund und Gesin nungsgenossen Aali Pascha. Jener begleitete den Sultan auf der großen Reise nach Somm« Paris, London, Wien u. a. O. und benutzte die überwältigenden Eindrücke, welche die " ' Zustände des Occidcnts und die Schöpfungen der christlichen Civilisation aus das Gcmüth des Großhcrrn hervorbrachtcn, um ihn zu freisinnigen Reformen, zu einer Gleichstellung der christlichen und mohammedanischen Bevölkerung im türkischen Reich, p einer Emancipation des Staats von den Satzungen der Religion des Korans zu bewegen. Seine Bemühungen waren nicht erfolglos; der Sultan zeigte ein lebhaftes verlangen, sein Reich nach dein Vorbilde der christlichen Staaten zu heben und durch Beförderung von Eisenbahnen und Verkehrsmitteln die Verbindung mit denselben zu Leichtern; durch Reformen in der Organisation der Provinzen, durch die Grün dung eines neuen Staatsraths aus Christen und Muselmanen sowie eines obersten ^ustizrathes und durch die Aufnahme einer Anzahl Christen selbst in die höchsten Stellen °n Regierung hat das System wenigstens einen kräftigen Anfang erhalten. Ob aber der Unwissenheit der Beamten, bei den Vorurtheilen des Volkes, bei dem Fanatis mus der alttürkischen Partei, bei dem Christenhaß der Armee und bei der volkswirth- schafttjchen und finanziellen Zerrüttung des Osmanischen Reiches die Durchführung von Reformen im Geiste des modernen Staats möglich sein würde, erschien schon damals manchem zweifelhaft und wurde noch zweifelhafter, seitdem durch den Tod FuadA^'-