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I. Die West Mächte und Rußland. 653 gekränkt gefühlt, daß sie bei den Geschicken Europas, bei dem geschichtlichen Weltgang nicht mehr, wie in den glorreichen Tagen der Vergangenheit, den ent scheidenden Einfluß üben, den bewegenden Impuls geben, das gebieterische Wort reden sollte. Diesem nationalen Selbstgefühl kam Napoleon fördernd entgegen. Indem er dem ritterlichen und militärischen Charakter, der tief in der Natur dcS französischen Volkes wurzelt, Raum und Gelegenheit zur Entfaltung gab und der Ruhm- und Chrliebe sammt ihrer Gefährtin, der Eitelkeit, schmeichelnd ent gegenkam, erweckte er die schlummernden Sympathien für die Bonapartc'sche Dynastie, befestigte seinen Thron und gab den unruhigen und gährendcn Kräften eine Ableitung nach Außen. Die französische Weltstadt hatte die Gcnugthuung im Laufe der Jahre in ihren Mauern die höchsten Soubcräne Europas zu em pfangen, die es nicht verschmähten, dem „Parvenü - Kaiser" ihre Huldigungen darzubringen. Napoleon trieb eine active Politik, und wenn er bei seinen In terventionen alle Eroberungsgelüste ableugnetc und den französischen Kricgsun- ternehnmngcn eine „civilisatorische Mission" zuschricb, eine Erklärung, die aller dings bei der Welt wenig Glauben fand und sich nicht überall bewährt hat, so schmeichelte er dadurch der französischen Nation und zerstreute zugleich die Be fürchtungen der auswärtigen Mächte. Er versäumte keine Gelegenheit bei allen öffentlichen Kundgebungen die Segnungen des Friedens für die Cultur und die öffentliche Wohlfahrt der Menschheit zu betonen. Bei seinem Abgang zur Armee in Italien hob er in einer schwungvollen Proklamation vom 3. Mai 1859 hervor, daß Frankreich bei dem Krieg kein anderes Ziel verfolge, als ein be freundetes Volk zu befreien und zum Herrn seiner eigenen Geschicke zu machen, daß die französische Nation nur von idealen und humanen Zwecken geleitet werde. Und wie sehr die Menschheit es beklagen mochte, daß das eherne Kricgsloos abermals über die Welt geworfen ward; so gereichte es dem zweiten Empire auch zur Ehre, daß es eine großartigere Völkerpolitik ins Dasein gerufen, anstatt der leidenschaftlichen conspiratorischen Kämpfe, die seit den Tagen von Belle Alliance das öffentliche Leben ausgefüllt und in Athem gehalten, eine Kriegs- Politik von höherem Stil und Charakter geschaffen, der Weltgeschichte einen be deutsameren würdigeren Inhalt verliehen hat. Das Streben des ersten Napoleon, unter den legitimen Herrscherhäusern V«mShi»ng. Europas eine Stellung zu gewinnen, den revolutionären Ursprung seines Kaiser- ihrones durch glänzende Ehebündnisse mit den alten Fürsteugeschlechtern in Ver gessenheit zu bringen, hatte keine erfreulichen Früchte getragen. Der Neffe ver mied diese Klippe, indem er, verletzt, daß die alten Fürstenhöfe den angebotenen Bruderbund nur mit Zurückhaltung eingehen wollten, die Rechtsquelle seiner Herrschaft im Volkswillcn suchte und sowohl dem längst erschütterten, aus einer überlebten Fcudalzeit stammenden Legitimitätsbegriff, als der Vorstellung von einem Königthum „von Gottes Gnaden" freiwillig entsagte. Als seine Braut werbung um Carlota, die Enkelin der verwittwetcu Großherzogin Stephanie