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IV. Die Kunst im neunzehnten Jahrhundert. 649 den. Die großen, vielfach mit officieller Wichtigkeit behandelten „Sängerfcste" der letzten Jahrzehnte waren ohne Ausnahme nur Männcrgcsangfeste, während die größeren oratorischen Aufführungen selbst in „Musiksesten" wesentlich als eine Privatangelegenheit der betreffenden Vereine behandelt wurden; dabei sind Sänger-, Turner- und Schützenfeste fast als Synonyma anzusehen. Bezeich nend für diese halbpolitische Stellung des Männergesanges ist auch noch, daß ihm hauptsächlich die neueren nationalen Lieder entsprungen sind; cs sei hier nur an die „Wacht am Rhein" erinnert, welche von C. Wilhelm 1854 als vier stimmiges Männerlicd componirt wurde. Dieser Männergesang ist eine spc- cifisch deutsche Erfindung, und als solche hat er nicht nur im Jnlande die wei testen Kreise selbst der ländlichen Bewohner für die harmonische Musik gewonnen, sondern ist auch daS wirksamste Mittel geworden, durch welches die Deutschen auf der ganzen Erde zusammenhaltcn und musikalische Cultur unter den Frem den verbreiten. Namentlich gilt dies von den vereinigten Staaten in Amerika, wo in jeder Stadt deutsche Männergcsangvcrcine cxistircn mit Festen, Wett singen und dergleichen, wie in Deutschland selber. Daß unser Vaterland in musikalischer Hinsicht seit Jahrzehnten für die Welt ein größeres Gewicht besitzt, als Italien oder Frankreich, beweist auch die Thätigkeit der musikalischen Presse. Der Musikdruck, durch die Vervollkomm nung der technischen Mittel jetzt befähigt, Mafien zu produciren, welche früher unmöglich waren, hat seinen Mittelpunkt in Deutschland und zwar in Leipzig. Der ins Große getriebene Musikhandcl offenbart nun, wie der Pulsschlag im Körper, die Gesammtbcwegung in dieser Kunst. Ucbcrwicgcnd und mit dem sichersten Erfolge beschäftigt derselbe sich mit der Verbreitung der sogenannten klassischen Werke verstorbener Meister, bezeugt also dadurch — was im Großen und Ganzen auch die musikalischen Aufführungen lehren —, daß die Haupt werke der Tonkunst als bereits der Vergangenheit angehörend betrachtet werden. Um jene Richtung noch mehr zu vertiefen und die gegenwärtige Musik von den Schlacken, welche ihr durch Massenproduktionen aller Art, durch einseitige Be vorzugung der Oper, durch Vernachlässigung der übrigen Zweige und sonstige Verirrungen ankleben, zu befreien, sind Vereine entstanden, welche sich die treue Herausgabe und Wiederbelebung der Werke der musikalischen Heroen zum Ziele setzen. Auf solche Weise sind (ebenfalls bisher ausschließlich in Deutschland) Gesammtausgaben von Händel, Bach, Mozart, Beethoven u. A. zu Stande gekommen, welche an Umfang, kritischer Genauigkeit und technisch vorzüglicher Ausführung alles überbieten, was frühere Zeiten in dieser Hinsicht unternom men haben. Alles dieses zusammen bildet gegenwärtig das für die Tonkunst vorliegende Material und liefert die Fäden, aus welchen das musikalische Gewebe der Zu kunft entstehen wird.