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648 0. Cultur- und Geistesleben in Deutsch land. Es sind zur Zeit in allen Ländern Tonsctzcr vorhanden, welche die Bühnen oder Concertsälc ihres Landes mehr oder weniger beherrschen und zum Thcü auch im Auslande eine bedeutende Stellung erlangt haben. Unter diesen sind Franzose CH. Gounod im Bühnen-, und der Deutsche Joh. Brahms ^^^im Conccrtgebiete gegenwärtig die hervorragendsten. Die Aufzählung der Ucbngen ist in einer kurzen Skizze zwecklos, und nur die Bemerkung si< hier angchängt, daß die eigentliche Kirchenmusik im musikalischen Lebcn der Gegenwart eine sehr untergeordnete Stellung cinnimmt. Ain meisten hat derselben die unklare Vermischung mit der Conccrtmusik geschadet. Letz tere besitzt zwar keine so begünstigte Stellung wie die theatralische Musik, hat sich aber vorzugsweise als die Musik der bürgerlichen Gesellschaft gel tend gemacht und nimmt dadurch Theil an dem großen Aufschwünge und der Machtentfaltnng dieser Gesellschaft in unserem Jahrhundert. Hauptsächlich nnÄ dem Vorgänge Englands und auf Grund der Knnst Händels bildeten sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts auch in Deutschland zuerst vereinzelt und spät« allgemein Chorgesangvereine, namentlich zur Aufführung von Oratorien. Gleich zeitig entstanden aller Orten sogenannte philharmonische Concerte mit gemisch tem, aber die Instrumentalmusik bevorzugendem Programm, bei welchen die Tonwerke und der Geist der Wiener Schule die Grundlage bildeten. Die Aus breitung dieser Concertaufsührungcn ins Massenhafte — sowohl was die Be setzung , als die Zahl der Zuhörer und die Ausdehnung der Räume betrifft — ist besonders in den letzten drei Jahrzehnten auf eine Weise gesteigert, daß ein Weitergchen in dieser Richtung ebenso unmöglich wie für die Kunst gefährlich erscheint. Es sind besonders die Chorconccrte, welche diese Verirrung befördern, da sie bei ihrer Rccrutirung aus allen Kreisen ohne erforderliche künstlerische Vorbildung über unerhörte Zahlen gebieten; im Sommer 1859 z. B. wurde Händel's „Israel" im Krystallpalast bei London von circa 5000 Mensche» (4000 Choristen und 1000 Instrumentalisten) aufgcführt und von 28,000 an- hört oder angesehen, und in ähnlicher Richtung bewegen sich ohne Ausnahuic alle gegenwärtigen Aufführungen, die man deshalb auch bei jeder Gelegenheit vorzugsweise gern als „Musikfeste" hinstcllt. Wesentlich befördert ist diese Richtung durch eine andere Art des gemein schaftlichen Singens, welche ebenfalls unserem Jahrhundert durchaus eigcn- thümlich ist und um 1810 in Norddeutschland entstand: durch den mehr stimmigen Männergesang. Derselbe hat sich zum Theil Hand in Hand entwickelt mit dem gleichzeitig und an denselben Orten entstandenen Turnen, wodurch sein Charakter deutlich genug bezeichnet wird. Dieser mehr- (meistens vier-) stimmige Männcrgesang, obwohl von vielen Componistcn in unendlichen Massen producirt, hat seines beschränkten Gebietes wegen für die Kunst nur eine geringe Bedeutung; eine desto größere hat derselbe aber erlangt für das öffent liche Leben. Selbst ein gewisser politischer Einfluß muß ihm nachgerühmt wer-