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596 0. Cultur- und Geistesleben in Deutschland. schließlich in christlich-religiösen Darstellungen und im Dienste einer herrschende» Kirche sich bewegte, sondern auch das weite Reich der Geschichte, Lage und Poesie zum Felde ihres Schaffens wählte und neben den antiken Vorbildern auch das reiche Natur- und Volksleben in der rnhigcn und aufgeregten Erscheinung za idealen Kunstgcbilden verwerthete. Wir haben früher bemerkt, daß Goethe, du nur in der Antike die wahre Kunstform erkannte, sich gegenüber der neuen Rich tung lange abweisend verhielt. Um die Zeit, da man die von ihm im Verein mit dem Schweizer Heinr. Meyer (gewöhnlich Kunstmcyer genannt) hcrausgc- gebene periodische Schrift „Propyläen" sehr kühl aufnahm, dagegen Wackenröders kunstliebcnden Klosterbruder bewunderte, schrieb er an Schiller: „Wir stehen gegen die neuere Kunst wie Iulian gegen das Christenthum". Es war ein prophetisches Wort, auch im Ausgang zutreffend. Denn bemerkt Hagen: „Julian mit alle» Mittelnausgerüstet, um wenn es möglich gewesen, eine Umkehr der Weltord nung zu erzwingen, konnte es nicht und Goethe konnte es nicht". Die neue Kunstrichtung hatte unter Anderem auch die Folge, daß eine Theilung der Kunst- arbeit in mannichfache Abzweigungen und Ausstrahlungen entstand, indem die Landschaft und die sogenannte Gattungs- oder Genremalerei, „welche die Zustände Sitten und Gebräuche, das einfache Seelenleben, die verschiedenen Thätigkcits- kreise der Menschen zum Gegenstand der Darstellung erkoren hat", der Historien malerei als ebenbürtige Gattungen an die Seite traten, so sehr sich auch der absolute Idealismus, der es liebt über allem Realen und geschichtlich Gewordenen zu schweben, Anfangs sträubte, die volksthümliche und nationale Anschauungs weise als vollberechtigten Kunstzweck anzuerkcnnen. Selbst die so lange ver nachlässigte Holzschnittkunst, die in der Malerei dieselbe Stelle einnimmt, wie in der Poesie das Plattdeutsche, wurde durch Richter und Schnorr, durch den Fabclzeichner Otto Speckter zu Groths „Quickborn" und durch zahlreiche Volks blätter wieder zu der Höhe der altdeutschen Kunsttechnik erhoben. Zu dieser Mannichfaltigkeit der Kunstthätigkcit hat der Romanticismus wesentlich beige- tragen. Wir wissen, wie anregend die neuromantische Schule in der Dichtkunst und in der Wissenschaft gewirkt hat; und wenn gleich diese Wirkung nicht überost gesunde und herzerfreuende Früchte hervorbrachte, so gab sie doch den Anstoß zu vielen neuen Versuchen, Bestrebungen und Ideen. Noch bedeutender uud nachhaltiger war ihr Einfluß auf das künstlerische Schaffen, das durch die Ro mantik auf neue Bahnen gewiesen, zu einer reicheren Lebensentfaltung angehalten wurde. Denn indem sie der klassischen Richtung einen Gegensatz aufstellü, hemmte sie die einseitige Exclusivität; die Wiederbelebung mittelalterlicher Ideen und Vorstellungen hatte neben der ungesunden Begeisterung und Hinneigung zn einem abgestorbenen Kirchenthum und Ritterthum auch die Wirkung, daß der Sinn für die nationale Vergangenheit, für die vaterländische Geschichte geweckt wurde; daß man die heilige Geschichte und die religiösen Traditionen wieder der Kunst zugänglich machte und neben den klassischen Bauwerken auch gothiD