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II. Die deutsche Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert. 559 loschen Charakter aufzuprägen suchte. trug ihm eine mchrmonatliche Gcfängnißstrafe ein. Nach Beendigung des Hatzfeldt'schen Prozesses siedelte Lassalle im Jahre 1857 von Düsseldorf nach Berlin über, wo er in seiner alten Weise üppigen Lebensgenuß mit angestrengten wissenschaftlichen Studien verband. Damals erschien sein historisches Trauerspiel: „Franz von Sickingen", ein Werk voll kühner genialer Gedanken trotz aller Schwächen in ästhetischer und formaler Beziehung. Den eigentlichen Boden seiner Wirksamkeit aber fand er erst, als er sich auf politische und sociale Tagesfragen warf. Im Jahre 1859 erschien „der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens", ein kräf tiges Mahnwort zu einer energischen und nationalen auswärtigen Politik; zwei Jahre später sein „Shstem der erworbenen Rechte", das wissenschaftlich bedeutendste seiner Berke, voll Scharfsinn und Gelehrsamkeit, das die tiefsten social-politischen Fragen untersuchte und in trocken gelehrter Form der socialistischcn Weltanschauung, nament lich der Aushebung der Heiligkeit des Privateigenthums und des Erbrechts mächtig Borschub leistete. Das „System der erworbenen Rechte" arbeitete dem Lommunismus wirksam vor, indem cs den Satz verfocht, daß ein neues Gesetz bestehende Rechtszu- Ande, wenn sie mildem herrschenden Rcchtsbewußtscin in Widerspruch stehen, ohne Entschädigung abschaffen kann, also z. B. auch das Privateigenthum. Wenn sich Lassalle gegenüber der Frage des persönlichen Eigenthums noch vorsichtig verhielt, so «klärte er um so schroffer das Erbrecht für verwerflich. In dem beginnenden Vcr- lassungsconflict trat er mit Vorträgen und Flugschriften hervor, ohne doch in der Fort- Ichrittspartci zu einer scincn Ehrgeiz befriedigenden Rolle zu gelangen; vielmehr gericth «zu dieser damals in höchster Blüthe stehenden Partei in scharfen Gegensatz, indem «noch radicalere demokratische Grundsätze verfocht und umwälzende sociale Reformen "«langte, unter dem Beifall vieler Conservativen, die den Satan des bürgerlichen Liberalismus mit dem Beelzebub der socialistischcn Arbeiteragitation auszutrciben ^dachten. Lassalle's eigentliche THLtigkcit als Agitator des vierten Standes aber begann «aMm-e agv wit seiner Wirksamkeit in Leipzig. In einem „offenen Antwortschreiben" an ein Leip- iig« Arbcitercomite entwickelte er sein social-politisches Programm: Um das „eherne Ang dcs aw Lohngesetz" auszuheben, das neunzig Prozent der Bevölkerung über ein zur kümmer-dim^n Ar- Fristung der Existenz knapp ausreichendes Einkommen sich nicht erheben lasse, bemr»-«ms. forderte er Staatscrcdit für Productivassociationen, da die individuelle Selbsthülfe un i"reichend sei, und das allgemeine gleiche Wahlrecht als das einzige Mittel, auf gesetz tem Wege zu socialen Reformen zu gelangen. Es schwebte ahm der Gedanke eines ^gemeinen deutschen Arbeitervereins vor, der durch die geringsten Beiträge die Mittel s einer umfassenden Agitation aufbringcn und die Arbeiter politisch organisircn sollte. Fortschrittspartei und die von ihr geleiteten Arbciterbildungsvercine sielen mit Er- Merung über den Agitator her. Allein durch einzelne Erfolge aufgcrichtet, wie bei M Arbeitern in Frankfurt a. M., wo er die unter dem Titel „Arbciterlesebuch" be knie große Rede hielt, verfolgte Lassalle mit feuriger Energie seine Pläne. Im Mai M3 wurde in Leipzig der „allgemeine deutsche Arbeiterverein" unter Lassalle's Präsidium gegründet; neue Agitationsschriften, von großer rhetorischer Kraft "nd wissenschaftlicher Gediegenheit, sandte der unermüdliche Mann in die Welt. Allein Erfolge blieben hinter den stolzen Hoffnungen kläglich zurück. „Wann wird dieses umpfe BE endlich seine Lethargie abschütteln?" schrieb er bekümmert. Eine „Heer- Au" scher die rheinischen Arbeiter gab dem leicht erregbaren Mann wieder frischen '^h; mit stärkerer Anspannung demagogischer Künste glaubte er doch noch zum zu kommen. Zugleich erwartete er von dem preußischen Ministerpräsidenten i"« Bismarck eine großartige nationale Politik und hoffte dann, im Gegensatz zu dem