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II. Die deutsche Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert. 511 Gerichte könnte freilich erst einer Zeit Zufällen, wo die cultivirte Menschheit, in Mkerfamilien gegliedert, zu einer allgemeinen Confödcration vereinigt sein und ein ewiger Friedenszustand, wenn auch nicht nach den utopischen Träumen der Schwärmer oder Philanthropen, wohl aber unter der Gesannntgarantic aller Regierungen aufgcrichtct werden würde. Dann würde das allgemeine Völker recht, das jetzt nur, wie gewisse gesellschaftliche Formen und Anstandsregcln, als die Summe non gemeingültigen Sittengeboten und Humanitätsgcsctzen Anerken nung findet, den Charakter eines völkerbindcnden StaatsrechtS annchmcn, das in der christlichen Ethik, in der europäischen Cultur, in dem Gcsammtgcfühl und Eesammtbedürfniß aller civilisirten Völker und in dem der Menschcnbrust in- wohnenden Friedensgcbot seine Quelle und seine Wurzeln hätte, und alle Stö rungen dieses Fricdenszustandes, alle Durchbrechung der Rechts - und Sittcn- gebote vor einem allgemeinen europäischen Areopag mit den Waffen des Geistes nach dem ewigen göttlichen Rechte verhindern könnte. Immerhin sind in dem letzten Vierteljahrhundert bedeutungsvolle Ansätze verwirklicht worden zu all mählicher formeller und mehr oder minder allgemeingültiger Feststellung dieses Rechtsgcbictes. Besonders wichtig sind hier die Vereinbarungen auf dem Pariser Kongreß von 1856, durch welche das Scckricgsrecht unter humanere Regeln ge stellt wurde, die Genfer Convention von 1864 über die Pflege verwundeter und kranker Krieger, endlich der Entwurf eines internationalen Reglements für das Landkriegsrecht überhaupt, den die von Rußland, gleichviel aus welchen Grün den, veranlaßte internationale Delcgirtenconferenz in Brüssel im Jahr 1874 aufgestellt hat. Als Lehrer des Völkerrechts haben eine weit über Deutschland hinausreichende Autorität und Wirksamkeit erlangt und entwickelt Hefftcr und Bluntschli („das moderne Völkerrecht als Rechtsbuch dnrgestellt"). Die moderne Rechtswissenschaft dankt ihre Aufgaben und ihre Richtung großen- IHM den neueren Leistungen der Gesetzgebung, welche sie ihrerseits angestoßen undgkbimund durch Vorarbeiten der verschiedensten Art gefördert, zum Theil erst möglich gemacht NbeMn. hatte. Ganz besonders gilt dies von der gemeinsamen deutschen Gesetzgebung, mit welchem Charakter zur Zeit des deutschen Bundes doch wenigstens Wechselordnung und Handelsgesetzbuch (1859—61) zu Stande gekommen waren, während feit Errichtung des norddeutschen Bundes und deutschen Reichs eine Fülle bedeutungs vollster Justizgesetze ins Leben getreten ist, unter welchen vor Allem zu nennen sind das in etwas zu beschleunigtem Tempo fertig gestellte Strafgesetzbuch (1870), nebst Militärstrafgesetzbuch (1872), und aus dem Jahr 1877, mit Geltung seit 1. Octobcr 1879, Gerichtsverfassungsgcsetz, Strafprozcßordnung, Civilprozcßordnung, Concursord- nung. Das Handelsrecht hat zugleich durch die ungeahnte Erweiterung und Vervielfälti- Mg des Handelsverkehrs an praktischer Wichtigkeit im täglichen Leben außerordentlich ^genommen. Damit ging Hand in Hand eine reichhaltige Literatur, unter welcher die Handbücher von Thöl und von Goldschmidt und das „Lehrbuch des deutschen Wech- ^chts" von A. Rcnand in Heidelberg an der Spitze stehen. Die neuen Rcichsjustiz- hstche und andere Rcichsgesctzc haben vorerst hauptsächlich zu einer Uebcrfluthung mit lßlchäftsmäßig hcrgcstellten Commentaren geführt, welche, zum Theil brauchbar als An- zur Thätigkeit in der Praxis, in ihrer großen Mehrzahl Anspruch auf wissen-