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II. Die deutsche Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert. 475 Nur sehr allmählich und langsam sammelten sich in der Grundstimmung des Jahrhunderts so viel lcbenverdächtigendc und lcbenvcrlcumdcrischc, so viel lebcnvernei- nende und lcbcnsseindliche Triebe an, daß eine Gedankenwelt, welche fast vierzig Jahre lang nur die eines einzigen Individuums gewesen war, zu der Bedeutung einer weite Kreise vereinigenden Weltanschauung herangcdcihcn konnte. Auch hier wirkte scheidend das Jahr 1848. Was vorher von pessimistischen Kundgebungen in die weitere Oefsentlichkeit gedrungen war, ist nur ein lyrisches Vorspiel zu der furchtbaren Tragödie des Gedankens gewesen, welche das Menschenalter seit 1848 beschäftigt. Zwar der heitere TagcShimmcl, welchem die deutsche Rationalliteratur ihre gesundesten Inspirationen verdankt hatte, war längst fahl geworden. Die Muse Heine s und seiner Nachfolger spielte mit Vorliebe aus Saiten, deren Harmonien unversehens in schrille Töne auscin- andcrstobcn. Daran schloß sich eine Literatur bald des kranken und müden Welt schmerzes, bald der frivolen Verlästerung und Verfluchung des Lebens. Aber gerade in der Poesie des größten Genius, welcher je den dämonischen Zug der Menschheit ver treten, Lord Byron's, nahm der das Leben und seinen Werth anzwcifclnde Gedanke immer eine positive Wendung nach der befreienden Macht der That zu, in welcher der Mensch seines eigenen Daseins und Zweckes inne wird und über krankhafte und auf lösende Anwandelungcn triumphirt. Der Freiheitsdrang dieser gewaltigen Natur, deren Fehler lauter Fehler des Ucbermaßcs der Kraft waren, wird immer wieder hoch hinweggetragcn über alle Stimmungen, welche Ekel und Uebcrdruß am Leben aus drücken oder gar verewigen könnten. Das Auftreten des genannten englischen Dichters kann geradezu als der Wendepunkt bezeichnet werden, an welchem die allgemeine Strö mung Les europäischen Rcactions - und Restaurationssturmes umschlägt, um neue Thatcnlust, idealen Drang zum Fortschritt und revolutionäre Leidenschaft zu erzeugen. Dieselben aufstcigcndcn und lebensvollen Töne beherrschen daher auch die politische Lyrik des „jungen Deutschlands", so sehr auch andererseits die Empörung über die kleinlichen, ja schimpflichen Zustände der vaterländischen Politik, die angclegentlichst betriebene Blosstellung, aller Gebrechen des öffentlichen Lebens, überhaupt die wach sende Einsicht in die Misere des staatlichen und gesellschaftlichen Daseins pessimistischen Stimmungen förderlich sein konnte. Aber erst die allgemeine Enttäuschung seit 1849, die grausamen Erfahrungen der fünfziger Jahre im Bunde mit der allgemeinen Er mattung und dem hoffnungslosen Verdruß, dein zuletzt auch die Besten erlagen, gehörte dazu, um jenen philosophischen Optimismus, welcher in der alten wie jungen Schule Hegcl's seinen vollendetsten Ausdruck gefunden hatte, vollends lahm zu legen und statt seiner dem einsamen Menschenfeind, welcher sich zu Frankfurt a. M. in einer fast keinen sterblichen Blicken zugänglichen, vom grenzenlosesten Egoismus fest umschanztcn Burg vergraben hatte, einen ihn selbst überraschenden Triumph zu bereiten. Erst seit Julius Frauenstädt 1854 seine ersten „Briefe über die Schopenhauer'sche Philosophie" ver öffentlicht hatte, war dieser Pessimismus auf die Tagesordnung gestellt. Zugleich gaben die von Schopenhauer selbst endlos und mit Geist und Witz wiederholten Verdächti gungen der „Philosophie-Professoren" dem Zweifel Nahrung, ob das, was öffentlich uuf den Universitäten gelehrt wird, nicht lediglich Staatsphilosophie und Dogmatis- ^sei, von erkauften Sophisten zu Ehren der Regierung und der Kirche vertheidigt. "Ud nyx System selbst unmittelbar nach den Befreiungskriegen entstanden war, so Wien ihm auch die großen Erfolge von 1870 keineswegs Abbruch. Vielmehr waren dst Enttäuschungen, welche hier namentlich aus kirchlichem und wirthschastlichcm Ge biete folgten, ihm durchweg günstig. Aber nicht mehr in seiner denkbar schroffsten, an die indische Sansara- und Nir- vana-Lehre erinnernden Gestalt fand der Pessimismus Eingang bei der neuen Gene-