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472 6. Cultur- und Geistesleben in Deutschland. Zn der Schätzung eines neu auftrctcnden Geschlechtes , welches die Erfolge eines Schelling und Hegel nur noch von Hörensagen als väterliche oder großväterliche Tradition kannte, schien sich die Philosophie in den oben genannten Führern wieder mit Fragen abgcarbeitet zu haben, welche Kant als transccndentc für alle Zeiten bei Seite gelegt wissen wollte. In der Annahme, daß die höchsten Be griffe und die allgemeinsten Grundsätze unseres Denkens uns von Haus aus eigen, durch intcllectuelle Anschauung zu finden oder aus dem reinen Denken zu ezpliciren seien, war ja nur die Voraussetzung der alten Scholastik wicdcrgekchrt, und diesem gut scholastischen Inhalte schien durch Hegel zum guten Ende auch noch die richtige scholastische Form beigefügt worden zu sein. Au die Stelle der Kritik schien die Conslruction, an die Stelle der Forschung eine Art „Kunsltricb", der in immer neuen Bcgriffsentwickelungcn sich genug zu thun strebte, an die Stelle der Erklärung der Wirklichkeit reine „Bcgriffsdichtuiig" getreten zu sei». Man verglich das Tagewerk der Fichte, Schelling und Hegel mit dem babylo nischen Thurmbau, „welcher mit Hochmuth und Thorhcit begonnen wurde und mit Verwirrung der Sprachen schloß." In Anerkennung des nicht in Abrede zu stellenden Maßes von Berechtigung, welches dieser schließlich auf den Einfluß der Naturwissenschaften zurnckzufnhrcndcn Rcaction inncwohnte, haben die be deutendsten und gelehrtesten unter den, in die naturwissenschaftlich bedingte Philo sophie der Gegenwart hernbergcwachscnen, Vertretern der Schule Hegcl's entweder, wieder Acsthetikcr Friedrich Theodor Vischer stillschweigend das System auf- gegeben, oder sich in nicht vergeblicher Erwartnng einer Zeit, da auch die Natur wissenschaften wieder nach einer umfassenden Weltanschauung ausschcn würden, einstweilen der fruchtbringenden Vertiefung in die historische Seite der Aufgabc zugcwandt. Niemand hat die Geschichte der alten Philosophie allseitiger und gründlicher behandelt als Eduard Zeller, Niemand die der neueren glänzender und erfolgreicher als Kuno Fischer. Nicht minder habe» sich in Beziehung auf Behandlung der Geschichte der Philosophie verdient gemacht die mehr durch Schleiermacher angeregten Philosophen Christian August Brandis und Heinrich Ritter, wie denn überhaupt auf diesem Gebiete die regste, das Ganze wie daS Einzelste umfassende Thätigkcit herrscht. Naummssm- Die erwartete Wendung auf dem Gebiete der Naturwissenschaften ließ freilich PhUosophi^ etwas lange auf sich warten. Lange Zeit über herrschte bei fast allen Naturforschern die, besonders prinzipiell und geistvoll von Rudolf Virchow in Berlin vertretene Maxime, Alles, was jenseits der Grenzen exactcr Forschung liegt, von dein Bereiche wissenschaftlicher Erkcnntniß schlechthin auszuschlicßcn und dem bloßen „Glauben" Z» überlassen. Aus einer derartigen scharfen Grcnzrcgulirung konnte nun zunächst die Jncompctenz der Naturwissenschaften nicht blos in Sachen des Glaubens, sondern auch über die Frage nach Realität und Schicksal der menschlichen Seele gefolgert werden, und von diesem Standpunkte aus trat 1854 aus der Naturforscher-Versammlungs Göttingen der dortige Physiologe Rudolf Wagner für das Recht der traditionelle» Anschauungen ein, indem er sich specicll gegen Karl Vogt's Satz wendete, die