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470 6. Cultur- und Geistesleben in Deutschland. speculativ hinauSzugchcn und das wahrhaft Seiende jenseits der Erscheinungen zu suchen, ist auf diesem Standpunkte einzig und allein der Umstand, daß die Erfahrung widersprechende Begriffe liefert, mit welchen sich das Denken nicht zufrieden geben kann. So legen wir zwar gewohnheitsmäßig den Dingen ihre einzelnen Merkmale als Eigen- schäften bei, aber der Begriff eines Dinges mit verschiedenen Merkmalen ist selbst der größte Widerspruch. Denn eine Mehrheit von Eigenschaften verträgt sich nicht mit der Einheit des Gegenstandes. Es ist ein widersprechender Begriff von dem Ding, daß es in einem vielfachen Besitz von Merkmalen bestehen soll. DaS Eine kann unmöglich Vieles sein. So nöthigcn die durch die Erfahrung gebotenen Widersprüche zu einer Bearbeitung und Umgestaltung der Begriffe, und in diesem Geschäfte besteht die Aus' gäbe der Philosophie. Sic entledigt sich derselben vermöge der Aufsuchung von Er- gänzungsbcgriffcn nach der Methode der Beziehungen. So muß der Begriff des Dinges mit den vielen Merkmalen von dein ihm anhaftenden Widerspruche befreit werden durch die Annahme, daß eine Mehrheit von einfachen realen Wesen existire. Wo viele solcher „Realen" beisammen sind, tritt daS Ding mit den vielen Eigenschaften in die Erscheinung. Das Systcin ist somit durchaus darauf berechnet, der Mannigfaltigkeit und Vielheit der Erschcinungswelt, welche die pantheistische Alleinslehre vergeblich aus eine Einheit zurückzuführcn bestrebt gewesen war, gerecht zu werden. Die Sclbständigkcil und Vielheit realer Wesen sei allein das fruchtbare Prinzip zur Erklärung der thatsäch- lichcn Wirklichkeit. So entsteht also z. B. die Materie durch theilwcise gegenseitige Durchdringung der Realen. Die Seele dagegen ist ein solches einfaches, unräumlichcs Wesen, welches seinen Sih an einem bestimmten Punkt des Gehirnes hat. Sie ist durchdringbar für in ihrer Nähe befindliche andere Realen, wenn von diesen letzteren der Sinn afficirt und die hervorgcrufene Bewegung mittelst der Nerven zum Gehirne geleitet wird. Der Act der Sclbsterhaltung, womit sie in solchem Falle rcagirt, heißt „Vorstellung". Mehrere gleichzeitige Vorstellungen, wenn sie sich entgegengesetzt sind, hemmen sich gegenseitig. Die Folge ist, daß ein bestimmtes Quantum der vorhandenen Vorstellungen, welches unser Philosoph nach den Gesetzen der Mechanik und Statik zu berechnen verstand, „unter die Schwelle des Bewußtseins" hcrabgedrückt, also unbewußt wird und verduftet. In dieser Weise betrachtet Hcrbart namentlich die räumlichen und zeitlichen Vorstellungen nicht etwa mit Kant als „apriorische Formen", sondern als Resultate des psychischen Mechanismus. Deswegen wird aber unsere Erkcnntniß der Außenwelt noch keineswegs illusorisch. Denn die Empfindung liefert mindestens Schein. Das leere Nichts kann nicht angenommen werden, weil jedenfalls der Schein da ist. Hier aber tritt der Satz ein: „Wie viel Schein, so vicl Hindeutung auf Sein". Nur eine Kcnntniß von der wahren Beschaffenheit der Dinge ist wegen der Bedingtheit aller Auffassung durch den Apparat des menschlichen Denkmechanismus unmöglich, wie denn auch in der That in den Zusammenhang dieses psychologischen Systems nur hereingeschneit kommt, was Herbart über ästhetische, ethische und religiöse Wahrheiten sagen zu können glaubt. Trotzdem daß auch dieses System sofort einer strengen Kritik anhcimficl, indem man nicht begreifen wollte, wie die Seele als raumloses Wesen an einem bestimmten Punkt im Gehirn residiren und Trägerin einer ganzen Complexion von Raumvorstcl- lungen sein soll u. s. w., hat es ihm doch keineswegs an scharfsinnigen Bertheidigern und Fortbildnern wie Allihn, Bonitz, Drobisch, Strümpell, Ziller, Volkmann, Har tenstein , Lazarus und Steinthal gefehlt, und wenigstens nahe verwandt mit seinem Standpunkt ist die Stellung, welche Lotze eingenommen hat, welcher in seinem „Mi krokosmus" (seit 1856) eine Weltanschauung aufbaut, der zu Folge alle Monaden nur Modifikationen des Absoluten, alle endlichen Geister nur Zustände oder Gedanken Gottes