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464 0. Lultur- und Geistesleben in Deutschland. kratischc Schriftstellerin", urthcilt Julian Schmidt über sic, „steht auf derselbe» Stufe der Bildung wie das junge Deutschland und die französischen Ronnni> schreibet, namentlich Balzac (XIV, 947), dem sic die Art dcs Porträtircns ab> gelernt hat und nach dessen Vorbild sie denselben Kreis fingirtcr Personen in allen Romanen wieder auflretcn läßt". Im Zwiespalt mit sich selbst und mit der Welt, suchte sic zuletzt durch den Ucbertritt zur katholischen Kirche und durch klösterliche Ascetik den innern Frieden und die Scclcnruhc zu erlangen, die ihr bisher fremd geblieben, und verdammte in dem Buche „von Babylon nach Jeru salem" ihr früheres Streben nnd Schaffen als Verirrung, mit der Cokcttcrie ciner büßenden Magdalena in eitler paradoxer Gespreiztheit die katholische Kirche verherrlichend im Gegensatz zu der protestantischen mit ihren langweiligen Pflicht- geboten. Geistesverwandt mit dieser Gräfin, wenn auch in dem Romane „Diogena" Hre Gegnerin auftrctend, ist Fanny Lewald aus Königsberg, eine durch Tendenzromane („Jenny"; „eineLebensaufgabe"; „Wandlungen" u. a. in.) und Rciseschilderungen („italienisches Bilderbuch"; „England und Schottland") be kannte, zum Christenthume bekehrte Jüdin, Verwandte von Aug. Lewald. Un ruhig und verfahren, theilte sie in ihren frühem Jahren mit ihren Stammesge- nossen Rahel, Börne, Heine die schnelle Auffassungsgabe und die gewandte Darstellung, aber auch den skeptischen und friedlosen Geist, der in den von der Kirche, voin Staat und von der Gesellschaft gesetzten Schranken nur Hemmnisse der individuellen Freiheit, nur Fesseln dcs menschlichen Geistes erblickt. Später vermählte sie sich mit dem durch Rcisebeschrcibungcn und Werke über Literatur und Kunst („Torso"; „Lessing's Leben") wie durch mehrere Monographien aus der Geschichte des Altcrthunis („Tiberius"; „Cleopatra") bekannten Schriftsteller Adolph Stahr, fuhr aber fort, durch Reisebricfc und andere Erzeugnisse die deutsche Unterhaltungsliteratur zu bereichern. Von der in den höher» literarisch und künstlerisch gebildeten Kreisen Berlins herrschenden krankhaften Ueberspannung lieferte Charlotte Sophie Stieg- H ^.j^litz, die geistig reichbegabtc Gattin dcs Dichters Heinrich Stieglitz, einen Beweis. Sie gab sich selbst den Tod, in der Absicht, ihren Gatten durch einen tiefen Schmerz zu größerer Thätigkeit und Kraftentfaltung zu spornen und dadurch sei» von Mißmuth und Verstimmung gelähmtes poetisches Talent productiver zu machen, seinem Geiste neue Spannung und Elasticität zu geben. Für ihren Gatten hatte dieses erschütternde Crcigniß, diese freiwillige Selbstauf opferung einer starken, aber verirrten Seele nicht die beabsichtigte Wirkung. Cr führte fortan ein unstetes Wanderleben, bis cr sich zuletzt in Venedig niedcrlicß, wo cr auch starb. Was er während dieses Wanderlebens gedichtet („Gruß o» Berlin"; ein „Zukunftstraum", u. a.) steht dem Früher« („Bilder des Orients"; „Stimmen der Zeit in Liedern" u. a. m.) an Werth nach.