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276 Zwischen zwei Revolutionen. malerei gerühmt, womit er in seinen Novellen („Der Maskenball", „Der Namenstag", „Eine Million") die gesellschaftlichen Zustände, die Regungen, Triebe und Jrrgünge Helena Hahn, des menschlichen Herzens in der hohen Gesellschaft vorführt. So hat Helena Hahn in „Dschclaladdin" und „Utballa" die leidenschaftliche Glut des TatarcnblutS mit ergrei fender Lebendigkeit dargestcllt. So hat der unter dem Namen Kosak MarlinSki vcrbor- ^AstuAwgene Schriftsteller Alex. Bestushew, Theilnchmer der Dekabristcn-Verschwörung und Freund des in Folge dieses MilitäraufstandcS Hingerichteten Rylcjew (XIV, 752 ff.), in seinen Erzählungen „Ammalat-Beg" und „Mullah-Nur" u. a., aus dem Kriegs- und Soldatenlcben der Kaukasusländer, die er durch langen Aufenthalt kennen gelernt, Bilder und Lebcnsschicksale vorgeführt, die ein großes dcscriptivcs Talent mit einem Anflug derben Humors verrathen. Der durch Ucbcrschungen weitverbreitete Roman „Tarantaß" des Schriftstellers und Staatsmannes Sollohub, schildert in der Form eines Reisebildcs das Leben und Treiben im inneren Rußland, „wobei durch Nebencin- anderstellung patriarchalischer Einfalt und moderner Ueberbildung die frappantesten I80Ä2! Contraste entstehen", mit panslavistischen Hintergedanken. Gogol-Janowskij, ein begabter Schriftsteller von beweglicher Natur und wechselvollcm Lcbcnsgang, hat in einer Reihe literarischer Productionen verschiedener Art die sittlichen Zustände seines Vaterlandes in humoristischer Weise dargcstellt. Ein Literarhistoriker der Gegenwart (Honegger) sucht in Gogol's dichterischer Entwickelung drei Stufenfolgen nachzuweisen. Zu der ersten Stufe rechnet er: „Abende auf dem Meierhof unweit Dikanka", Schilde rungen des kleinrusfischen Lebens von ethnographischem Gehalt; zur zweiten „Mir- gorod", eine Reihe von Erzählungen voll Poesie und gelungener Charakterzeichnung, unter denen „Taraß Bulba" den ersten Rang einnimmt. Die dritte Entwickelungs periode beginnt mit dem Lustspiel „Revisor", welches die Beschränktheit und Corruption der russischen Beamtenwelt veranschaulicht, und endigt mit dem satirisch-komischen Zeit gemälde „Die todten Seelen", worin die Mißbräuche, die Vorurtheile, das rohe mate rielle Leben der Provinzbcwohner und die damit verbundene Engherzigkeit derselben mit Wahrheit und getreu dargestellt find. Bon Rom nach Moskau zurückgekehrt, ver sank Gogol in religiöse Schwermuth, ein tragischer Lebcnsausgang. „Der genialste Humorist Rußlands war aus Verzweiflung über die Zustände, die er so unerbittlich verhöhnt und an den Pranger gestellt hatte, zum Anbeter des Despotismus, zum Verlästerer jeder freien Regung, zum religiösen Mystiker geworden, der ganze Tage im Gebet vor Heiligenbildern verbrachte, der von Petersburg nach Rom, von Rom nach Jerusalem pilgerte, um sein Gewissen zu beruhigen und Vergebung seiner Sünden zu finden". Bei seinen Erzählungen hatte Gogol Walter Scott vor Augen; aber neben dem literarisch-ästhetischen Zweck verfolgte er bei seinen Schilderungen eine sitt lich-vaterländische Tendenz: er wollte darthun, daß der russischen Nation eine voll ständige Umgestaltung des Lebens Noth thue. Unter seinen humoristischen Schilde rungen erkennt man den Schmerz, den der Verfasser über das sittliche Elend, über die Thorheiten und verkommenen Zustände des Volkes, des Adels, der Beamtcnwelt und der höheren Stände empfindet. ^mawrisch- Gogol war der Begründer der realistisch-humoristischen Socialliteratur, welche Literatur, durch die getreue Schilderung des sittlichen Abgrundes die russische Nation zu heben und die Nothwendigkeit durchgreifender Reformen des politischen und gesellschaftlichen Lebens und der verrotteten öffentlichen Zustände darzuthun suchte. In demselben Geiste 1812—70! wirkte der Publicist Alexander Herzen, der Herausgeber der „Glocke" (Kolokol), eines einflußreichen Organs der öffentlichen Meinung, geschrieben im Auslande, wo der von einer deutschen Mutter abstammende Sprosse eines reichen vornehmen Hauses sich über dreißig Jahre aufhielt, berühmt und gefürchtet als talentvoller Schriftsteller, Journalist