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II. Gcschichtsleben in den Einzclstaaten (Rußland). 273 der Vaterlandsliebe und dem Rationalstolz bald in elegischen, bald in humoristischen und satirischen Tonen Ausdruck gaben. Es ist oft bemerkt worden, daß Puschkin im Leben wie in der Poesie manche Aehnlichkcit mit Lord Byron hatte; und es ist nicht zu verkennen, daß der britische Dichter einen großen Einsiuß auf den russischen Zeit genossen geübt hat. Doch würde man ein unrichtiges Urthcil fasten, wollte man Puschkin einen Nachahmer Byrons nennen. Die ähnlichen Charakterzügc, Seclenstim- mungcn und Gcistcsrichtungcn haben sich bei beiden in ähnlichen Kundgebungen ge äußert, ohne daß darum die Originalität des russischen Dichters gcläugnct werden dürste. Beiden gemeinsam war das kurze rasche Leben, das in gesellschaftlichen Ge nüßen, in buntem Schicksalswcchscl, in Licbcsfrcudcn und Licbcsschmcrzen, in anstren genden körperlichen Ucbungcn und Bewegungen wie in aufreibenden geistigen Arbeiten sich rastlos verzehrte und mit einem tragischen Ausgang in jungen Jahren endete. Puschkin wurde sicbenunddreißig Jahre alt von einem Baron Hccquercn, der der schönen Frau des Dichters zärtliche Aufmerksamkeiten erwies, im Duell erschossen. Beiden gemein sam war die epigrammatische und satirische Schärfe, die bittere Spottsucht, durch welche sie sich den Haß der vornehmen Welt zuzogcn, so daß sie längere Zeit von den Haupt städten ihrer Hcimath ferne lebten, Byron in freiwilliger Verbannung, Puschkin in gezwungenem Exil in den Grenzlandcn von Asien. Gemeinsam war auch beiden, daß sic einen Roman in Versen zum Träger und Spiegelbild ihrer Lcbcnsanschauungcn, ihrer Stimmungen, ihrer weit- und menschenverachtenden Empfindungen machten. Der „Eugeni Onegin", eine epische Erzählung in vierzehnzciligen Strophen über acht Bücher vertheilt, ist „der Don Juan der russischen Sitten". Aber mit diesen äußer lichen Analogien und Achnlichkcitcn schließt die Parallele: in allen übrigen Dingen ist Puschkin der Sohn seines Landes, weit entfernt von dem großartigen Kosmopolitismus und Freiheitsdrang des genialen Briten. Schon die genannten Werke tragen den Stempel der gänzlichen Geistcsverschiedcnhcit der beiden Dichter an sich: denn während der Held der Byron'schcn Dichtung im Don Juan wie im Childe Harold stets ein anziehender interessanter Charakter bleibt, in dem sich die männliche Kraft und das stolze Sclbstbewußtsein des britischen Edelmannes abspiegclt, ist der Puschkin'sche Eugen Onegin ein blasirter kraft - und saftloser Salonmensch der großen hauptstädti schen Welt, ein romantischer Fant ohne ideale Züge. „Ein Roman in Versen", so urtheilt ein Literarhistoriker der Gegenwart über das Gedicht, „der für den Dichter selbst den Uebergang anzeigt von der subjectiv leidenschaftlichen Stimmung früherer Schöpfungen zur objektiv abgemessenen Lebensbetrachtung. Heiter und trübe durch einander wogende Lebensanschauung von satirisch-humoristischem Zuschnitt spielt in asten Farben. Die Handlung ist sehr schwach, tritt ganz zurück vor den schildernd-betrachtenden Elementen. Wir schlendern herum in einer bunt beleuchteten Gallerie von Scenen und Situa tionen aus dem Natur- und Gesellschaftslcbcn, von Gestalten und Charakteren, von äußern Wahrnehmungen und innern Erfahrungen, sie alle bald in ausgespannten Gemälden, bald in rein lyrischen Ergüssen nach Art des Liedes, bald in epigrammatischen Strichen oder in allerlei Anspielungen und launigen Beziehungen zusammengeworsen". Puschkin verdankte seine Popularität und seine literarische Wirksamkeit zum guten Theil der Wahl seiner Stoffe. Er griff mit sicherem Tact in das vaterländische Ge- schichts- und Volksleben hinein, wobei er bald wie bei seinem volksthümlichcn drama tischen Gemälde „Boris Godunow" Shakespeare, bald wie bei seinen Novellen und erzählenden Gedichten Walter Scott vor Augcn hattc. Schon sein Jugcndgedicht „Rußlan und Ludmilla", ein Heldcnmärchcn in sechs Gesängen aus Rußlands Vorzeit in Kiew, erinnert an die poetischen Erzählungen des schottischen Dichters. Die Vor- Wcbcr, W-UgeschickM. XV. 18