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II. Gcschichtsleben in den Einzelstaaten (Rußland). 271 insbesondere die Lyrik, das Volkslied und die Vvlksballade der Ausdruck für °llc Gemüthsbewegungen, für alle Empfindungen der Seele in Freude und Traurigkeit. Erst seit Nicolaus nahm Rußland in Wissenschaft, Literatur und Kunst einen Rang ein, der den Erzeugnissen des Geistes und der Phantasie eine vchtungswcrthe Stellung in der Culturwelt anwics. Nicht als ob Zar Nicolaus ein besonderer Förderer der Künste und Wissenschaften gewesen wäre, vielmehr sland er in dieser Beziehung weit zurück hinter Katharina und Alexander. Es ist uns aus früheren Blättern erinnerlich, wie sehr die große Monarchin bc- stissen war dem russischen Reiche alle jene Güter des Geistes und der Phantasie zuzuführcn, die der französischen Metropole in ihren Augen einen so hohen Reiz verliehen; wir wissen, wie empfänglich der Zar Alexander für die geistigen Ge- unssc war, die in den westlichen Culturläudcrn ihm entgegcngcbracht wurden, und wie eifrig beide bedacht gewesen durch Mehrung der Erziehungsanstalten, der Universitäten und Akademien und durch Beförderung wissenschaftlicher Studien und Litcraturwerke die Bildung zu heben und zu verbreiten. Allein diese Bil dung bestand meistens aus fremdländischen Elementen, war eine Pflanze, deren Wurzeln und Samen aus fremdem Boden stammten. Konnte doch noch im Jahr 1843 Jordan die Geschichte der russischen Literatur mit dem Satze cin- führen: „Die russische Literatur ist kein inländisches, sondern ein exotisches, aus dem Auslande herübergcpflanztes Gewächs". Für eine innere nationale Cultur war keine Stätte vorhanden. Unter Nicolaus dagegen wurde das russische Reich gegen das Ausland abgeschlossen, und wie wenig auch im Allgemeinen dieses Absperrungssystem dem Lande zum Segen gereichte, für die Erweckung des Na- tionalrussischen, für das Sammeln und Pflegen des Eigenen, Heimischen, Na turwüchsigen war es Vortheilhaft. Eine realistische Romantik auf nationalem Boden erwachsen stellte sich die Aufgabe, die russische Poesie und Kunst in die moderne Weltliteratur einzuführen. Die Eroberungen in den Grenzlanden hoben das nationale Selbstbewußtsein, und die ungestörte Ruhe im Innern ge währte Muße zur Selbstschau und Umschau. Wir werden bald erfahren, wie sehr die großartige Gcbirgswelt des Kaukasus und die Kämpfe mit den Natur völkern jener romantischen Gegenden die Phantasie der russischen Dichter, eines Puschkin, Lermotow, Bestushew belebt und befruchtet und ihrem schöpferischen Talente anziehende und originelle Stoffe zugeführt haben. Hatte K a r a m s i n Kammsm^ in seiner weitverbreiteten und in mehrere fremde Sprachen übersetzten „Ge schichte des russischen Reiches" (XIV, 412), seine europäische Bildung und sein reiches Talent dazu angewendet, dem russischen Volke zu zeigen, wie es durch Beschwerden und Anstrengungen, durch Leiden und Kämpfe aus geringen Anfängen zu dem größten Weltreich hcrangewachsen, ihm zu Gcmüthc zu führen, daß nur der in der Autokratie des Zaren wurzelnde Absolutismus die Macht und Größe Rußlands begründet habe und zu erhalten vermöge, hatte er durch seine stilistische Darstellung mit rhetorisch-epischer Fülle Liebe und Begeisterung