Volltext Seite (XML)
II. Gcschichtsleben in den Einzelstaaten (Oesterreich). 259 In Ungarn zeigte sich in de» dreißiger und vierziger Jahren ein immer stärkeres Anwachsen der Reform- und Bewcgungspartci, an deren Spitze der uns bekannte Graf Stephan Szcchcnyi (XIV', 719) stand, ein geistig höchst angeregter und strebsamer, für die großartigen politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse Englands eingenommener Resorm-Aristokrat, dessen rastlos ver folgtes Ziel war, die Kräfte Ungarns zu erschließen und der Civilisation des Westens zu eröffne»; in demselben Maße ei» immer ivciteres Zurückwcichcn der Altcouservativen, welche die überlieferte Adclshcrrschaft und Privilegicnmirth- schaft erhalten wollten. Aufhebung der Zünfte, der Robot, der Zehnten, der Steuerfreiheit des Adels, Gleichheit der Rechte und Pflichten, Garantien für den Bestand der Verfassung, Besserung der wirthschaftlichen Zustände waren die stürmisch erhobenen Forderungen der Reformpartei. Aus dem sogenannten Operatcnrcichstag in Preßburg sollte eine Reihe wichtiger Verwaltungsrcformen vereinbart werden, wie Regelung der Verhältnisse zwischen Grundhcrren und'^K. Untcrthancn (Urbarialgcsctz), eine verbesserte Gerichtsordnung, Reformen in Handel und Industrie, Schul- und Kirchcuwescn u. a. Allein zu sachlichen Ver handlungen über innere Reformen kam cs kaum ; immer wieder drängten sich die hochpolitischen staatsrechtlichen Fragen in den Vordergrund, namentlich auch die Spracheiifrage, in der die nationalen Bestrebuiige» einen stets stärkeren Ausdruck fanden. An der Spitze der radicalcn Opposition, welche die aristokratische Reform- Partei eines Szcchcnyi immer mehr überflügelte, stand seit der Mitte der dreißiger Jahre der beredte, ehrgeizige, volksthümliche Advocat und Journalist Ludwig Koss uth, ein Agitator und Demagog von stürmischer Leidenschaft und ver zehrendem Feuer; schon trat neben ihm auch der größte ungarische Staatsmann der Folgezeit, Franz Deäk, als hervorragendes Mitglied der Opposition auf, die auf deu Reichstagen eine immer größere Majorität und auch in de» Comi- tatsversammlungen immer mehr Boden gewann. Um die Comitatsvcrfassung, in welcher der Schwerpunkt der ganzen Verwaltung lag, ihres nationalen und oppositionellen Charakters zu berauben, suchte mau das sogenannte Apponyi'sche Adnüuistratorensystcm durchzuführeu. Da der Obergespau, dem die Leitung des Comitats oblag, als reicher Magnat oft jahrelang in der Fremde weilte, fielen die Geschäfte den beiden gewählten Viccgcspanen zu, die stets der nationalen Partei angehörten. Zur Beseitigung dieser Einrichtung suchte man ein altes Gesetz hervor, wonach an Stelle eines längere Zeit abwesenden Obergespans ein Administrator von der Regierung ernannt werden sollte, eine Maßregel, die in den national-oppositionellen Kreisen viel böses Blut erregte. Die Partei der Opposition und Reform mußte sich namentlich auch der materiellen Interessen zu bemächtigen; Vereine für alle möglichen wirthschaftlichen Zwecke, so vor Allem der Schutzverein für inländische Industrie, wurden gegründet und entfalteten eine lebhafte Wirksamkeit auch auf politischem Gebiet. Im Gegensatz zu dem demokratischen Radicalismus Kossuth's bildete sich eine gemäßigte jungconser- 17*