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II. Gcschichtslcben in den Einzclsiaateu (Deutschland). 231 Versprechungen entsagt, als zu allgemeiner Ueberraschung ein wichtiger neuer Schritt in der Verfassungsfrage geschah. Den Schluftstcin in dein Ausbau der provinzialständischen Verfassung bil-A^U'A'. dete das am Jahrestag des „Aufrufs an mein Volk" erlassene Patent über^M°"s, die ständischen Einrichtungen, das nach jahrelangen „Verfassungs- Mythen" die preußische Constitution darstellte, aber keineswegs in dem Sinne, wie es die öffentliche Meinung verlangte, der letzte Versuch, das mittelalterliche Ständcwcscn am Leben zu erhalten, ehe es für immer zu Grabe getragen ward. Den, königlichen Patent waren drei Verordnungen beigcfügt, über die Bildung deS vereinigten Landtags, über die periodische Zusammenbcrufung des vereinigten ständischen Ausschusses und dessen Befugnisse, und über die Bildung einer ständischen Deputation für das Staatsschuldcnwcscn. Der vereinigte ständische Ausschuß sollte in Zwischenräumen von längstens vier Jahren cinberuscn werden und alle Befugnisse deS Gesammtlandtags, mit Ausnahme der Zustimmung zu Anleihen und neuen Steuern besitzen; ihm sollte hauptsächlich die fortlaufende Arbeit der Gesetzgebung obliegen. Nach dem Patent sollten sämmtliche Mitglieder der acht Provinziallandtagc zu einem vereinigten Landtag zusammcntrcten, der in zwei Curicn gctheilt war, eine aus den Mitgliedern des Herrcnstandes, die andere aus den Mitgliedern der drei andern Stände, Ritterschaft, Städten und Landgemeinden, gebildet, in gewissem Sinne eine Nachah mung des Zweikammersystems. Beide Curicn sollten thcils, bei Steuer- und Anleihe- fachen, vereinigt, theils abgesondert beschließen; eine periodische Einberufung war nur dem vereinigten Ausschuß, nicht dem vereinigten Landtag zugestanden. Es hieß nur in dem Patent, so ost die Bedürfnisse des Staates entweder neue Anleihen oder die Einfüh rung neuer Steuern erfordern, wird der König jedesmal die Provinzialständc der Monarchie zu einem vereinigten Landtag um sich versammeln. Als die Gegenstände, welche dem vereinigten Landtag oder, wenn dieser nicht versammelt, dem Ausschuß unterbreitet werden sollten, bezeichnete das Patent: berathcnde Theilnahme an der Gesetzgebung, soweit diese durch das Gesetz vom 5. Juni 1823 bisher den Provin- zialständen eingeräumt gewesen; Mitwirkung an der Verzinsung und Tilgung der Staatsschuld gemäß des Gesetzes vom 17. Januar 1820; das Recht, der Staats regierung Petitionen über innere Angelegenheiten vorzulcgcn, welche nicht blos daS Interesse einzelner Provinzen betreffen. Auf Grund dieser Verordnung trat der „erste preußische Reichstag" zusam- men, und es entfaltete sich trotz der mangelnden parlamentarischen Schulung eine Fülle glänzenden Talents, hoher staatsmännischer und rednerischer Bega- bung, so daß von dem vereinigten Landtag eine mächtige politische Wirkung über ganz Deutschland ausging, die nicht wenig dadurch gefördert wurde, daß die Versammlung die Bcfugniß erhielt, ihre Verhandlungen vollständig bekannt zu machen. Die mühsam zurückgehaltenen Kräfte und Bestrebungen eines regeren und freieren politischen Lebens fanden hier einen ersten, wenn auch noch sehr eingeengten Schauplatz. Unter den Mitgliedern dieses Landtags traten Männer auf, die in der parlamentarischen und politischen Geschichte der folgenden Jahre eine große Rolle spielten: Georg von Vincke aus Westfalen, Hermann von Beckerath, David Hanseniann, Ludolf Camphausen, Mevissen vom Rhein,