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II. Geschichtsleben in den Einzelstaaten (Deutschland). 227 sollte der zu gleicher Zeit nach Berlin berufene Schelling heilen. In das Ober tribunal wurde Hassenpflug, der „Herr non Haß und Fluch", wie ihn der Ber liner Volkswitz nannte, berufen, der als kurhessischer Minister mit seinen An griffen gegen die Landesverfassung sich in ganz Deutschland verhaßt gemacht. Ein finsteres gedrücktes System lagerte sich über Unterricht und Kirche; Pie tismus und) Mysticismus wurden überall begünstigt, frönimclndc Vereine, Missions- und Bibelgesellschaften auf alle Weise befördert. Wir kennen die Wirkungen dieses Systems des Denk- und Glaubenszwangs auf die kirchlichen Zustände. Immer strenger wurde aufs neue auch die Presse geknebelt; denn, wie Eichhorn sagte, „mit der Kirche und dem Staate, wie sic sein können und dürfen, sind Ocffcntlichkeit und Redefreiheit unverträglich". Mißliebigen Uni versitätslehrern wurden die Vorlesungen untersagt, Männer, wie die Philo sophen Nauwcrk und Hinrichs, der Theolog Schwarz, der Literarhistoriker R. Prutz und viele Andere hatten das Schicksal der wissenschaftlichen Censur. Dafür entstanden neue Orden und Klöster in Preußen. Nicht anders wurde mit den Volksschulen verfahren; Lehrer, Schulbücher, Methode wurden aufs strengste überwacht, ob sie dem herrschenden System dienten; civilvcrsorgungs- bercchtigte Unteroffiziere wurden wieder wie in alten Zeiten in Lehrämtern untergebracht. Pietisten von der äußersten Richtung, wie der Gencraladjutant von Thile, der Graf Stolberg-Wernigerode, wurden in das Cabinet berufen; auch der neue Justizmiuistcr v. Savigny, seit 1842 an Stelle des verrufenen Kamptz, und der Finanzministcr von Bodelschwingh standen der kirchlichen Partei nahe. In die Gcsctzgebungscommission wurde der Oberjustizrath von Gerlach berufen, ein typischer Repräsentant des herrschenden pictistisch- reactionären Geistes. Als verhältnißmäßig freisinnig konnte noch der Minister von Bülow gelten, der Schwiegersohn Wilhelm von Humboldt's, der im Jahre 1842 an Maltzahn's Stelle die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten übernahm. Selbst die richterliche Unabhängigkeit wurde durch ein Gesetz angetastet, 2s. Mäi, welches die bevorzugte Stellung der Richter aufhob, sie gleich den Verwaltungs-D>eüchm. beamten einem Disciplinarhof unterstellte, das im Landrecht für jedes Ein-Mg^im" schreiten gegen einen Richter angeordnete gerichtliche Verfahren nur noch gemeine und eigentliche Amtsverbrcchen bcibchielt. Pensionirung, Strafver setzung, Degradation von Justizbeamten fanden fortan auch ohne richterlichen Spruch statt und wurden gegen freisinnige, politisch mißliebige Richter mit schnö dester Willkür und Härte angewendct; die zahlreichen freisprechenden Urtheile von Gerichten in politischen Prozessen erschienen dem Monarchen wie eine Auf lehnung gegen seinen königlichen Willen und ließen ihn Hand anlegcn an das kostbarste Gut eines Rechtsstaats, die Unabhängigkeit der Justiz. Ein lauge nachwirkender Verfall des preußischen Richtcrstandes, Heuchelei, Liebedienerei und Streberthum waren die Folgen dieses Gesetzes. Die Versuchung, sich 15*