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II. Geschichtsleben in den Einzelstaaten (Deutschland). 213 bewährte den alten Spruch, daß Gewalt über Recht gehe. Dadurch mußte der Glaube im Volke aufkommen, daß das Recht, das man ihm als ewig und heilig dargestellt, im Dienste der Vornehmen und Mächtigen stehe, und sich drehe und wende, wie cs diesen vorteilhaft sei, und daß die öffentliche Treue, auf die man sich stets berief, nur von Seiten der Armen und Schwachen an erkannt werden solle. Diese Staatswcishcit schuf eine tiefe Kluft zwischen Volk und Regierung, zwischen „Unterthancn" und „Gouvernement", zwischen Nation und „Polizcistaat"; sie bewirkte, daß alle Gesetze, Anordnungen, Einrichtungen und Vorschläge, sofern sie von den Regierungen ausgingen, mit Mißtrauen be trachtet wurden. Durch Polizcimaßregcln konnte man leicht die Presse im Zaum halten, aber der Zwang war den Regierungen verderblicher, als die Preßfrei heit gewesen wäre; was in den ccnsirtcn Zeitungen gepriesen war, fand keinen Glauben und kein Vertrauen; was darin gerügt war, wurde für noch schlimmer angesehen, als es war. Die Ccnsorenwillkür bewirkte, daß sich die Wohlge sinnten und Stimmberechtigten von der Journalistik abwandtcn und diese daher in Hände geriet!), die selten das rechte Maß einzuhaltcn verstanden oder gewillt waren. Die Sitte, alle öffentliche Lcbensthätigkcit durch amtliche Verordnungen zu regeln und durch Polizcimaßregcln zu überwachen, erzeugte einen heftigen Widerwillen gegen die Herrschaft der Schreibstube, gegen die „Bureaukratie" und den „Beamtendcspotismus". Die Nation war in zwei mächtige Parteien ge spalten, auf der einen Seite standen die auf Militär und Polizei sich stützenden Regierungen mit ihren „besoldetenDienern", auf der andern das ganze übrige Volk aller Stünde. So kam es, daß alle Anfechtungen des bestehenden Sy stems, aller Widerstand gegen Fürsten, Höfe und Beamten freudige Aufnahme und die in diesem Sinn verfaßten Schriften, Gedichte, Zeitungen einen großen Leserkreis fanden. Was Wunder, daß bei der deutschen Schreibseligkeit dieses Feld vorzugsweise bebaut wurde? Gab es früher Hofdichter, die sich die Schil derungen der Freuden und Festlichkeiten der Höfe zur Aufgabe stellten, so gab es jetzt Dichter, welche die Lumpen der Bettler und das Elend der Proletarier zum Gegenstand ihrer aufreizenden Poesie machten. Nur Oppositionsblättcr konnten auf Dauer und Bestand und eine große Abonnentenzahl rechnen, conser- »ative Zeitungen standen im Ruf der Käuflichkeit oder gingen bald unter. Selbst in der Wissenschaft und schönen Literatur, dem einzigen Felde, wo sich der deutsche Geist einigermaßen frei bewegen konnte, gewann die Opposition gegen das Beste hende einen immer breiteren Boden und verlieh den Erzeugnissen des Verstandes und der Phantasie jenen zersetzenden und auflösenden Charakter, der in der öffent lichen Stimme einen so mächtigen Anklang und Nachhall fand. Aus Abneigung gegen den von den Regierungen fcstgehaltenen starren „Positivismus" in Kirche und Staat förderte der seiner Natur nach conservative Mittelstand mit einer ge wissen Schadenfreude alle destruktiven Regungen und Tendenzen, mochten sie auch seinen heiligsten und theuersten Interessen einen furchtbaren Abgrund bereiten.