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II. Gcschichtsleben in den Einzelstaaten (Pyr. Halbinsel). 147 aufrecht erhalten werde. Don Carlos schwankte eine Zeitlang; aber durch die portugiesischen Prinzessinnen, durch einige fanatische Bischöfe und durch die Geschäftigkeit des österreichischen und sardinischen Gesandten wurde er zu der Erklärung gebracht, „seine Religion gestatte ihm nicht, die Rechte, die er durch die Geburt besitze und die er seinen Kindern schuldig sei, preiszugebcn". Daj^""^' sprach Marie Christine, verlassen und bedrängt und von langen Nachtwachen erschöpft, dem Gemahl selbst den Wunsch aus, er möge die pragmatische Sanc- tion zurückzichen. Calomarde, der Minister Alcudia und der Bischof von Leon, der königliche Beichtvater, unterstützten ihre Bitte. So geschah cs, daß der todt- krauke Monarch eine Art Codicill zu einer früher aufgesetzten letztwilligen Ver fügung unterzeichnete, worin er aus Rücksicht für die Ruhe der Nation die pragmatische Sanction vom 29. März 1830 und seine testamentarischen Be stimmungen über die Regentschaft zurücknahm. Der Widerruf sollte bis zum Tode des Königs geheim gehalten werden; aber die Freude der Apostolischen war so groß, daß sie im Glauben, Ferdinand werde aus der tiefen Ohnmacht, die ihn nach der Unterzeichnung befiel, nicht wieder zum Leben erwachen, den Infante» bereits als König begrüßten. Aber der Triumph war verfrüht; König Ferdinand erholte sich wieder; umschug. und nun erfolgte ein bedeutungsvoller Umschlag. Das rücksichtslose Hervor treten der Ultras hatte deutlich ihre Absicht verrathen, den royalistisch-klerikalen Terrorismus von 1823 zurückzuführen. Diese Wahrnehmung führte alle frei sinnigen und gemäßigten Elemente in der Bevölkerung und im Bcamtenstand auf die Seite der Königin. Die Ankunft der energischen Prinzessin Luise Car lota, die auf die Kunde von dem gefährlichen Zustande ihres königlichen Schwa gers aus den Seebädern von Cadiz zum Beistände ihrer Schwester nach San Ildefonso geeilt war, beschleunigte die Katastrophe. Calomarde wurde entlassen und vierzig Meilen von der Hauptstadt verbannt und der Königin während der Krankheit ihres Gemahls die Leitung der Regierung übertragen. Die übrigen Minister, mit Ausnahme von Ballesteros, theilten das Schicksal ihres Chefs; in den höchsten militärischen und bürgerlichen Stellen fand ein tiefgreifender Wechsel statt; der blutdürstige Graf Cspana wurde entfernt und Llaudcr zum Generalcapitän von Barcelona ernannt; eine weitgehende Amnestie wurde er lassen, eine Annäherung au die konstitutionellen Westmächte angebahnt. Bald sah sich Marie Christine an der Spitze einer großen Partei, welche im Gegensatz zu den Absolutisten, der fanatischen Priestcrschaft und dein von ihr geleiteten bigoten und abergläubischen Pöbel, alle Anhänger eines modernen Rechts- und Verfassungsstaates, alle Freunde der Aufklärung und geistigen Freiheit umfaßte. Damit trat Spanien in den großen Pcinzipienkampf ein, der in jenen Tagen das ganze civilisirte Europa durchzog. Schon jetzt konnte man in den Bewe gungen, die in einzelnen Städten und Provinzen sich zeigten, das Vorspiel der kommenden Dinge erkennen. Hatten doch die „Karlisten", wie man jetzt die 10"